Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

eignen, wenn er in irgend eine Straße ging,
die ihm eine entfernte Aehnlichkeit mit einer
Straße in H. . . zu haben schien. -- Dann
däuchte ihm einige Augenblicke sein Zustand in
H. . . wieder gegenwärtig; die Scenen seines
Lebens verwirreten sich untereinander.

Bei seinen Spatziergängen fand er nun im¬
mer einen besondern Reiz darin, Gegenden in
der Stadt aufzusuchen, wo er noch gar nicht
gewesen war. Seine Seele erweiterte sich dann
immer, es war ihm, als ob er aus dem engen
Kreise seines Daseyns einen Sprung gewagt hät¬
te; die alltäglichen Ideen verlohren sich, und große
angenehme Aussichten, Labyrinthe der Zukunft
eröfneten sich vor ihm.

Allein es war ihm noch nie gelungen, sein
ganzes Leben in B. . . mit allen seinen mannich¬
faltigen Veränderungen in einen einzigen vollen
Blick zusammen zu fassen. Der Ort, wo er sich
jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu stark an
irgend einen einzelnen Theil desselben, als daß
noch für das Ganze in seiner Denkkraft Platz
gewesen wäre; er drehete sich mit seinen Vor¬
stellungen immer in einem engen Cirkel seines
Daseyns herum.

Um

eignen, wenn er in irgend eine Straße ging,
die ihm eine entfernte Aehnlichkeit mit einer
Straße in H. . . zu haben ſchien. — Dann
daͤuchte ihm einige Augenblicke ſein Zuſtand in
H. . . wieder gegenwaͤrtig; die Scenen ſeines
Lebens verwirreten ſich untereinander.

Bei ſeinen Spatziergaͤngen fand er nun im¬
mer einen beſondern Reiz darin, Gegenden in
der Stadt aufzuſuchen, wo er noch gar nicht
geweſen war. Seine Seele erweiterte ſich dann
immer, es war ihm, als ob er aus dem engen
Kreiſe ſeines Daſeyns einen Sprung gewagt haͤt¬
te; die alltaͤglichen Ideen verlohren ſich, und große
angenehme Ausſichten, Labyrinthe der Zukunft
eroͤfneten ſich vor ihm.

Allein es war ihm noch nie gelungen, ſein
ganzes Leben in B. . . mit allen ſeinen mannich¬
faltigen Veraͤnderungen in einen einzigen vollen
Blick zuſammen zu faſſen. Der Ort, wo er ſich
jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu ſtark an
irgend einen einzelnen Theil deſſelben, als daß
noch fuͤr das Ganze in ſeiner Denkkraft Platz
geweſen waͤre; er drehete ſich mit ſeinen Vor¬
ſtellungen immer in einem engen Cirkel ſeines
Daſeyns herum.

Um
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0153" n="143"/>
eignen, wenn er in irgend eine Straße ging,<lb/>
die ihm eine entfernte Aehnlichkeit mit einer<lb/>
Straße in H. . . zu haben &#x017F;chien. &#x2014; Dann<lb/>
da&#x0364;uchte ihm einige Augenblicke &#x017F;ein Zu&#x017F;tand in<lb/>
H. . . wieder gegenwa&#x0364;rtig; die Scenen &#x017F;eines<lb/>
Lebens verwirreten &#x017F;ich untereinander.</p><lb/>
      <p>Bei &#x017F;einen Spatzierga&#x0364;ngen fand er nun im¬<lb/>
mer einen be&#x017F;ondern Reiz darin, Gegenden in<lb/>
der Stadt aufzu&#x017F;uchen, wo er noch gar nicht<lb/>
gewe&#x017F;en war. Seine Seele erweiterte &#x017F;ich dann<lb/>
immer, es war ihm, als ob er aus dem engen<lb/>
Krei&#x017F;e &#x017F;eines Da&#x017F;eyns einen Sprung gewagt ha&#x0364;<lb/>
te; die allta&#x0364;glichen Ideen verlohren &#x017F;ich, und große<lb/>
angenehme Aus&#x017F;ichten, Labyrinthe der Zukunft<lb/>
ero&#x0364;fneten &#x017F;ich vor ihm.</p><lb/>
      <p>Allein es war ihm noch nie gelungen, &#x017F;ein<lb/>
ganzes Leben in B. . . mit allen &#x017F;einen mannich¬<lb/>
faltigen Vera&#x0364;nderungen in einen einzigen vollen<lb/>
Blick zu&#x017F;ammen zu fa&#x017F;&#x017F;en. Der Ort, wo er &#x017F;ich<lb/>
jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu &#x017F;tark an<lb/>
irgend einen einzelnen Theil de&#x017F;&#x017F;elben, als daß<lb/>
noch fu&#x0364;r das Ganze in &#x017F;einer Denkkraft Platz<lb/>
gewe&#x017F;en wa&#x0364;re; er drehete &#x017F;ich mit &#x017F;einen Vor¬<lb/>
&#x017F;tellungen immer in einem engen Cirkel &#x017F;eines<lb/>
Da&#x017F;eyns herum.</p><lb/>
      <fw place="bottom" type="catch">Um<lb/></fw>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0153] eignen, wenn er in irgend eine Straße ging, die ihm eine entfernte Aehnlichkeit mit einer Straße in H. . . zu haben ſchien. — Dann daͤuchte ihm einige Augenblicke ſein Zuſtand in H. . . wieder gegenwaͤrtig; die Scenen ſeines Lebens verwirreten ſich untereinander. Bei ſeinen Spatziergaͤngen fand er nun im¬ mer einen beſondern Reiz darin, Gegenden in der Stadt aufzuſuchen, wo er noch gar nicht geweſen war. Seine Seele erweiterte ſich dann immer, es war ihm, als ob er aus dem engen Kreiſe ſeines Daſeyns einen Sprung gewagt haͤt¬ te; die alltaͤglichen Ideen verlohren ſich, und große angenehme Ausſichten, Labyrinthe der Zukunft eroͤfneten ſich vor ihm. Allein es war ihm noch nie gelungen, ſein ganzes Leben in B. . . mit allen ſeinen mannich¬ faltigen Veraͤnderungen in einen einzigen vollen Blick zuſammen zu faſſen. Der Ort, wo er ſich jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu ſtark an irgend einen einzelnen Theil deſſelben, als daß noch fuͤr das Ganze in ſeiner Denkkraft Platz geweſen waͤre; er drehete ſich mit ſeinen Vor¬ ſtellungen immer in einem engen Cirkel ſeines Daſeyns herum. Um

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/153
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/153>, abgerufen am 04.12.2024.