Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

legenheit empfinden ließ -- jede Mahlzeit wurde
ihm zugezählt, und Anton mußte oft im eigent¬
lichen Verstande sein Brod mit Thränen essen.

Sein einziger Trost in dieser Lage waren
seine einsamen Spaziergänge mit seinen beiden
kleinern Brüdern, mit denen er ordentliche
Wanderungen auf den Wällen der Stadt an¬
stellte, indem er sich immer ein Ziel setzte, nach
welchem er mit ihnen gleichsam eine Reise
that. --

Diß war seine liebste Beschäftigung von sei¬
ner frühesten Kindheit an, und als er noch kaum
gehen konnte, setzte er sich schon ein solches Ziel
an einer Ecke der Straße, wo seine Eltern wohn¬
ten, welches die Grenze seiner kleinen Wande¬
rungen war.

Er schuf sich nun den Wall, welchen er hin¬
auf stieg in einen Berg, das Gesträuch, durch
welches er sich durcharbeite in einen Wald, und
einen kleinen Erdhügel im Stadtgraben, in
eine Insel um; und so stellte er mit seinen Brü¬
dern in einem Bezirk von wenigen hundert
Schritten, oft viele meilenweite Reisen an --
er verlohr sich und verirrte sich mit ihnen in Wäl¬

dern,
L 4

legenheit empfinden ließ — jede Mahlzeit wurde
ihm zugezaͤhlt, und Anton mußte oft im eigent¬
lichen Verſtande ſein Brod mit Thraͤnen eſſen.

Sein einziger Troſt in dieſer Lage waren
ſeine einſamen Spaziergaͤnge mit ſeinen beiden
kleinern Bruͤdern, mit denen er ordentliche
Wanderungen auf den Waͤllen der Stadt an¬
ſtellte, indem er ſich immer ein Ziel ſetzte, nach
welchem er mit ihnen gleichſam eine Reiſe
that. —

Diß war ſeine liebſte Beſchaͤftigung von ſei¬
ner fruͤheſten Kindheit an, und als er noch kaum
gehen konnte, ſetzte er ſich ſchon ein ſolches Ziel
an einer Ecke der Straße, wo ſeine Eltern wohn¬
ten, welches die Grenze ſeiner kleinen Wande¬
rungen war.

Er ſchuf ſich nun den Wall, welchen er hin¬
auf ſtieg in einen Berg, das Geſtraͤuch, durch
welches er ſich durcharbeite in einen Wald, und
einen kleinen Erdhuͤgel im Stadtgraben, in
eine Inſel um; und ſo ſtellte er mit ſeinen Bruͤ¬
dern in einem Bezirk von wenigen hundert
Schritten, oft viele meilenweite Reiſen an —
er verlohr ſich und verirrte ſich mit ihnen in Waͤl¬

dern,
L 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0177" n="167"/>
legenheit empfinden ließ &#x2014; jede Mahlzeit wurde<lb/>
ihm zugeza&#x0364;hlt, und Anton mußte oft im eigent¬<lb/>
lichen Ver&#x017F;tande &#x017F;ein Brod mit Thra&#x0364;nen e&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
      <p>Sein einziger Tro&#x017F;t in die&#x017F;er Lage waren<lb/>
&#x017F;eine ein&#x017F;amen Spazierga&#x0364;nge mit &#x017F;einen beiden<lb/>
kleinern Bru&#x0364;dern, mit denen er ordentliche<lb/>
Wanderungen auf den Wa&#x0364;llen der Stadt an¬<lb/>
&#x017F;tellte, indem er &#x017F;ich immer ein Ziel &#x017F;etzte, nach<lb/>
welchem er mit ihnen gleich&#x017F;am eine <hi rendition="#fr">Rei&#x017F;e</hi><lb/>
that. &#x2014;</p><lb/>
      <p>Diß war &#x017F;eine lieb&#x017F;te Be&#x017F;cha&#x0364;ftigung von &#x017F;ei¬<lb/>
ner fru&#x0364;he&#x017F;ten Kindheit an, und als er noch kaum<lb/>
gehen konnte, &#x017F;etzte er &#x017F;ich &#x017F;chon ein &#x017F;olches Ziel<lb/>
an einer Ecke der Straße, wo &#x017F;eine Eltern wohn¬<lb/>
ten, welches die Grenze &#x017F;einer kleinen Wande¬<lb/>
rungen war.</p><lb/>
      <p>Er &#x017F;chuf &#x017F;ich nun den Wall, welchen er hin¬<lb/>
auf &#x017F;tieg in einen Berg, das Ge&#x017F;tra&#x0364;uch, durch<lb/>
welches er &#x017F;ich durcharbeite in einen Wald, und<lb/>
einen kleinen Erdhu&#x0364;gel im Stadtgraben, in<lb/>
eine In&#x017F;el um; und &#x017F;o &#x017F;tellte er mit &#x017F;einen Bru&#x0364;¬<lb/>
dern in einem Bezirk von wenigen hundert<lb/>
Schritten, oft viele meilenweite Rei&#x017F;en an &#x2014;<lb/>
er verlohr &#x017F;ich und verirrte &#x017F;ich mit ihnen in Wa&#x0364;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 4<lb/></fw> <fw place="bottom" type="catch">dern,<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[167/0177] legenheit empfinden ließ — jede Mahlzeit wurde ihm zugezaͤhlt, und Anton mußte oft im eigent¬ lichen Verſtande ſein Brod mit Thraͤnen eſſen. Sein einziger Troſt in dieſer Lage waren ſeine einſamen Spaziergaͤnge mit ſeinen beiden kleinern Bruͤdern, mit denen er ordentliche Wanderungen auf den Waͤllen der Stadt an¬ ſtellte, indem er ſich immer ein Ziel ſetzte, nach welchem er mit ihnen gleichſam eine Reiſe that. — Diß war ſeine liebſte Beſchaͤftigung von ſei¬ ner fruͤheſten Kindheit an, und als er noch kaum gehen konnte, ſetzte er ſich ſchon ein ſolches Ziel an einer Ecke der Straße, wo ſeine Eltern wohn¬ ten, welches die Grenze ſeiner kleinen Wande¬ rungen war. Er ſchuf ſich nun den Wall, welchen er hin¬ auf ſtieg in einen Berg, das Geſtraͤuch, durch welches er ſich durcharbeite in einen Wald, und einen kleinen Erdhuͤgel im Stadtgraben, in eine Inſel um; und ſo ſtellte er mit ſeinen Bruͤ¬ dern in einem Bezirk von wenigen hundert Schritten, oft viele meilenweite Reiſen an — er verlohr ſich und verirrte ſich mit ihnen in Waͤl¬ dern, L 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/177
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/177>, abgerufen am 04.12.2024.