Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

er im eigentlichen Verstande, so oft er im Dun¬
keln etwas Gespensterähnliches zu sehen glaubte.
Auch pflegte sie von einem Sterbenden zu sagen,
daß ihm der Tod schon auf der Zunge sitze; dies
nahm Anton ebenfalls im eigentlichen Verstande,
und als der Mann seiner Base starb, stand er
neben dem Bette, und sahe ihm sehr scharf in
den Mund, um den Tod auf der Zunge dessel¬
ben, etwa, wie eine kleine schwarze Gestalt, zu
entdecken.

Die erste Vorstellung über seinen kindischen
Gesichtskreis hinaus bekam er ohngefähr im
fünften Jahre, als seine Mutter noch mit ihm
in dem Dorfe wohnte, und eines Abends mit
einer alten Nachbarin, ihm, und seinen Stief¬
brüdern allein in der Stube saß.

Das Gespräch fiel auf Antons kleine Schwe¬
ster, die vor kurzem in ihrem zweiten Jahre ge¬
storben war, und worüber seine Mutter beinahe
ein Jahr lang untröstlich blieb.

Wo wohl jetzt Julchen seyn mag? sagte sie
nach einer langen Pause, und schwieg wieder.
Anton blickte nach dem Fenster hin, wo durch
die düstre Nacht kein Lichtstrahl schimmerte, und

fühlte

er im eigentlichen Verſtande, ſo oft er im Dun¬
keln etwas Geſpenſteraͤhnliches zu ſehen glaubte.
Auch pflegte ſie von einem Sterbenden zu ſagen,
daß ihm der Tod ſchon auf der Zunge ſitze; dies
nahm Anton ebenfalls im eigentlichen Verſtande,
und als der Mann ſeiner Baſe ſtarb, ſtand er
neben dem Bette, und ſahe ihm ſehr ſcharf in
den Mund, um den Tod auf der Zunge deſſel¬
ben, etwa, wie eine kleine ſchwarze Geſtalt, zu
entdecken.

Die erſte Vorſtellung uͤber ſeinen kindiſchen
Geſichtskreis hinaus bekam er ohngefaͤhr im
fuͤnften Jahre, als ſeine Mutter noch mit ihm
in dem Dorfe wohnte, und eines Abends mit
einer alten Nachbarin, ihm, und ſeinen Stief¬
bruͤdern allein in der Stube ſaß.

Das Geſpraͤch fiel auf Antons kleine Schwe¬
ſter, die vor kurzem in ihrem zweiten Jahre ge¬
ſtorben war, und woruͤber ſeine Mutter beinahe
ein Jahr lang untroͤſtlich blieb.

Wo wohl jetzt Julchen ſeyn mag? ſagte ſie
nach einer langen Pauſe, und ſchwieg wieder.
Anton blickte nach dem Fenſter hin, wo durch
die duͤſtre Nacht kein Lichtſtrahl ſchimmerte, und

fuͤhlte
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0058" n="48"/>
er im eigentlichen Ver&#x017F;tande, &#x017F;o oft er im Dun¬<lb/>
keln etwas Ge&#x017F;pen&#x017F;tera&#x0364;hnliches zu &#x017F;ehen glaubte.<lb/>
Auch pflegte &#x017F;ie von einem Sterbenden zu &#x017F;agen,<lb/>
daß ihm der Tod &#x017F;chon auf der Zunge &#x017F;itze; dies<lb/>
nahm Anton ebenfalls im eigentlichen Ver&#x017F;tande,<lb/>
und als der Mann &#x017F;einer Ba&#x017F;e &#x017F;tarb, &#x017F;tand er<lb/>
neben dem Bette, und &#x017F;ahe ihm &#x017F;ehr &#x017F;charf in<lb/>
den Mund, um den Tod auf der Zunge de&#x017F;&#x017F;el¬<lb/>
ben, etwa, wie eine kleine &#x017F;chwarze Ge&#x017F;talt, zu<lb/>
entdecken.</p><lb/>
      <p>Die er&#x017F;te Vor&#x017F;tellung u&#x0364;ber &#x017F;einen kindi&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;ichtskreis hinaus bekam er ohngefa&#x0364;hr im<lb/>
fu&#x0364;nften Jahre, als &#x017F;eine Mutter noch mit ihm<lb/>
in dem Dorfe wohnte, und eines Abends mit<lb/>
einer alten Nachbarin, ihm, und &#x017F;einen Stief¬<lb/>
bru&#x0364;dern allein in der Stube &#x017F;aß.</p><lb/>
      <p>Das Ge&#x017F;pra&#x0364;ch fiel auf Antons kleine Schwe¬<lb/>
&#x017F;ter, die vor kurzem in ihrem zweiten Jahre ge¬<lb/>
&#x017F;torben war, und woru&#x0364;ber &#x017F;eine Mutter beinahe<lb/>
ein Jahr lang untro&#x0364;&#x017F;tlich blieb.</p><lb/>
      <p>Wo wohl jetzt Julchen &#x017F;eyn mag? &#x017F;agte &#x017F;ie<lb/>
nach einer langen Pau&#x017F;e, und &#x017F;chwieg wieder.<lb/>
Anton blickte nach dem Fen&#x017F;ter hin, wo durch<lb/>
die du&#x0364;&#x017F;tre Nacht kein Licht&#x017F;trahl &#x017F;chimmerte, und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fu&#x0364;hlte<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0058] er im eigentlichen Verſtande, ſo oft er im Dun¬ keln etwas Geſpenſteraͤhnliches zu ſehen glaubte. Auch pflegte ſie von einem Sterbenden zu ſagen, daß ihm der Tod ſchon auf der Zunge ſitze; dies nahm Anton ebenfalls im eigentlichen Verſtande, und als der Mann ſeiner Baſe ſtarb, ſtand er neben dem Bette, und ſahe ihm ſehr ſcharf in den Mund, um den Tod auf der Zunge deſſel¬ ben, etwa, wie eine kleine ſchwarze Geſtalt, zu entdecken. Die erſte Vorſtellung uͤber ſeinen kindiſchen Geſichtskreis hinaus bekam er ohngefaͤhr im fuͤnften Jahre, als ſeine Mutter noch mit ihm in dem Dorfe wohnte, und eines Abends mit einer alten Nachbarin, ihm, und ſeinen Stief¬ bruͤdern allein in der Stube ſaß. Das Geſpraͤch fiel auf Antons kleine Schwe¬ ſter, die vor kurzem in ihrem zweiten Jahre ge¬ ſtorben war, und woruͤber ſeine Mutter beinahe ein Jahr lang untroͤſtlich blieb. Wo wohl jetzt Julchen ſeyn mag? ſagte ſie nach einer langen Pauſe, und ſchwieg wieder. Anton blickte nach dem Fenſter hin, wo durch die duͤſtre Nacht kein Lichtſtrahl ſchimmerte, und fuͤhlte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/58
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/58>, abgerufen am 04.12.2024.