Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Anton glaubte, wenn man einmal fromm
und gottselig leben wolle, so müsse man es auch
beständig, und in jedem Augenblicke, in allen
seinen Mienen und Bewegungen, ja sogar in
seinen Gedanken seyn; auch müsse man keinen
Augenblick lang vergessen, daß man fromm
seyn wolle.

Nun vergaß er es aber natürlicher Weise
sehr oft: seine Miene blieb nicht ernsthaft, sein
Gang nicht ehrbar, und seine Gedanken schweif¬
ten in irdischen weltlichen Dingen aus.

Nun glaubte er, sey alles vorbei, er habe
noch so viel, wie nichts gethan, und müsse wie¬
der von vorn anfangen.

So ging es oft verschiednemale in einer
Stunde, und dies war für Anton ein höchst
peinlicher und ängstlicher Zustand.

Er überließ sich wieder, aber beständig mit
Angst und klopfendem Herzen, seinen vorigen
Zerstreuungen.

Dann fing er das Werk seiner Bekehrung
einmal von vorn wieder an, und so schwankte er
beständig hin und her, und fand nirgends Ruhe
und Zufriedenheit, indem er sich vergeblich die

E 5

Anton glaubte, wenn man einmal fromm
und gottſelig leben wolle, ſo muͤſſe man es auch
beſtaͤndig, und in jedem Augenblicke, in allen
ſeinen Mienen und Bewegungen, ja ſogar in
ſeinen Gedanken ſeyn; auch muͤſſe man keinen
Augenblick lang vergeſſen, daß man fromm
ſeyn wolle.

Nun vergaß er es aber natuͤrlicher Weiſe
ſehr oft: ſeine Miene blieb nicht ernſthaft, ſein
Gang nicht ehrbar, und ſeine Gedanken ſchweif¬
ten in irdiſchen weltlichen Dingen aus.

Nun glaubte er, ſey alles vorbei, er habe
noch ſo viel, wie nichts gethan, und muͤſſe wie¬
der von vorn anfangen.

So ging es oft verſchiednemale in einer
Stunde, und dies war fuͤr Anton ein hoͤchſt
peinlicher und aͤngſtlicher Zuſtand.

Er uͤberließ ſich wieder, aber beſtaͤndig mit
Angſt und klopfendem Herzen, ſeinen vorigen
Zerſtreuungen.

Dann fing er das Werk ſeiner Bekehrung
einmal von vorn wieder an, und ſo ſchwankte er
beſtaͤndig hin und her, und fand nirgends Ruhe
und Zufriedenheit, indem er ſich vergeblich die

E 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0083" n="73"/>
      <p>Anton glaubte, wenn man einmal fromm<lb/>
und gott&#x017F;elig leben wolle, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e man es auch<lb/>
be&#x017F;ta&#x0364;ndig, und in jedem Augenblicke, in allen<lb/>
&#x017F;einen Mienen und Bewegungen, ja &#x017F;ogar in<lb/>
&#x017F;einen Gedanken &#x017F;eyn; auch mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e man keinen<lb/>
Augenblick lang verge&#x017F;&#x017F;en, daß man fromm<lb/>
&#x017F;eyn wolle.</p><lb/>
      <p>Nun vergaß er es aber natu&#x0364;rlicher Wei&#x017F;e<lb/>
&#x017F;ehr oft: &#x017F;eine Miene blieb nicht ern&#x017F;thaft, &#x017F;ein<lb/>
Gang nicht ehrbar, und &#x017F;eine Gedanken &#x017F;chweif¬<lb/>
ten in irdi&#x017F;chen weltlichen Dingen aus.</p><lb/>
      <p>Nun glaubte er, &#x017F;ey alles vorbei, er habe<lb/>
noch &#x017F;o viel, wie nichts gethan, und mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e wie¬<lb/>
der von vorn anfangen.</p><lb/>
      <p>So ging es oft ver&#x017F;chiednemale in einer<lb/>
Stunde, und dies war fu&#x0364;r Anton ein ho&#x0364;ch&#x017F;t<lb/>
peinlicher und a&#x0364;ng&#x017F;tlicher Zu&#x017F;tand.</p><lb/>
      <p>Er u&#x0364;berließ &#x017F;ich wieder, aber be&#x017F;ta&#x0364;ndig mit<lb/>
Ang&#x017F;t und klopfendem Herzen, &#x017F;einen vorigen<lb/>
Zer&#x017F;treuungen.</p><lb/>
      <p>Dann fing er das Werk &#x017F;einer Bekehrung<lb/>
einmal von vorn wieder an, und &#x017F;o &#x017F;chwankte er<lb/>
be&#x017F;ta&#x0364;ndig hin und her, und fand nirgends Ruhe<lb/>
und Zufriedenheit, indem er &#x017F;ich vergeblich die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 5<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0083] Anton glaubte, wenn man einmal fromm und gottſelig leben wolle, ſo muͤſſe man es auch beſtaͤndig, und in jedem Augenblicke, in allen ſeinen Mienen und Bewegungen, ja ſogar in ſeinen Gedanken ſeyn; auch muͤſſe man keinen Augenblick lang vergeſſen, daß man fromm ſeyn wolle. Nun vergaß er es aber natuͤrlicher Weiſe ſehr oft: ſeine Miene blieb nicht ernſthaft, ſein Gang nicht ehrbar, und ſeine Gedanken ſchweif¬ ten in irdiſchen weltlichen Dingen aus. Nun glaubte er, ſey alles vorbei, er habe noch ſo viel, wie nichts gethan, und muͤſſe wie¬ der von vorn anfangen. So ging es oft verſchiednemale in einer Stunde, und dies war fuͤr Anton ein hoͤchſt peinlicher und aͤngſtlicher Zuſtand. Er uͤberließ ſich wieder, aber beſtaͤndig mit Angſt und klopfendem Herzen, ſeinen vorigen Zerſtreuungen. Dann fing er das Werk ſeiner Bekehrung einmal von vorn wieder an, und ſo ſchwankte er beſtaͤndig hin und her, und fand nirgends Ruhe und Zufriedenheit, indem er ſich vergeblich die E 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/83
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/83>, abgerufen am 04.12.2024.