Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

habt hätte, was sie selbst nicht seyn konnte,
und wodurch ihr eigenes Daseyn ihr verächtlich
wurde.

Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß
einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß
eine Empfindung im Allgemeinen zum
Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die
schon bestimmte Scene, die er dichten will,
noch eher als diese Empfindung, oder we¬
nigstens zugleich mit der Empfindung da
ist. Kurz, wer nicht während der Em¬
pfindung zugleich einen Blick in das gan¬
ze Detaille der Scene werfen kann, der
hat nur Empfindung, aber kein Dich¬
tungsvermögen.

Und gewiß ist nichts gefährlicher, als einem
solchen täuschenden Hange sich zu überlassen;
die warnende Stimme kann nicht früh genug
dem Jüngling zurufen, sein Innerstes zu prü¬
fen, ob nicht der Wunsch bei ihm an die Stel¬
le der Kraft tritt, und weil er diese Stelle nie
ausfüllen kann, ein ewiges Unbehagen die
Strafe verbotenen Genusses bleibt.

habt haͤtte, was ſie ſelbſt nicht ſeyn konnte,
und wodurch ihr eigenes Daſeyn ihr veraͤchtlich
wurde.

Es iſt wohl ein untruͤgliches Zeichen, daß
einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß
eine Empfindung im Allgemeinen zum
Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die
ſchon beſtimmte Scene, die er dichten will,
noch eher als dieſe Empfindung, oder we¬
nigſtens zugleich mit der Empfindung da
iſt. Kurz, wer nicht waͤhrend der Em¬
pfindung zugleich einen Blick in das gan¬
ze Detaille der Scene werfen kann, der
hat nur Empfindung, aber kein Dich¬
tungsvermoͤgen.

Und gewiß iſt nichts gefaͤhrlicher, als einem
ſolchen taͤuſchenden Hange ſich zu uͤberlaſſen;
die warnende Stimme kann nicht fruͤh genug
dem Juͤngling zurufen, ſein Innerſtes zu pruͤ¬
fen, ob nicht der Wunſch bei ihm an die Stel¬
le der Kraft tritt, und weil er dieſe Stelle nie
ausfuͤllen kann, ein ewiges Unbehagen die
Strafe verbotenen Genuſſes bleibt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0172" n="158"/>
habt ha&#x0364;tte, was &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t nicht &#x017F;eyn konnte,<lb/>
und wodurch ihr eigenes Da&#x017F;eyn ihr vera&#x0364;chtlich<lb/>
wurde.</p><lb/>
      <p>Es i&#x017F;t wohl ein untru&#x0364;gliches Zeichen, daß<lb/>
einer keinen Beruf zum Dichter habe, <hi rendition="#fr">den bloß<lb/>
eine Empfindung im Allgemeinen zum<lb/>
Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die<lb/>
&#x017F;chon be&#x017F;timmte Scene, die er dichten will,<lb/>
noch eher als die&#x017F;e Empfindung, oder we¬<lb/>
nig&#x017F;tens zugleich mit der Empfindung da<lb/>
i&#x017F;t. Kurz, wer nicht wa&#x0364;hrend der Em¬<lb/>
pfindung zugleich einen Blick in das gan¬<lb/>
ze Detaille der Scene werfen kann, der<lb/>
hat nur Empfindung, aber kein Dich¬<lb/>
tungsvermo&#x0364;gen.</hi></p><lb/>
      <p>Und gewiß i&#x017F;t nichts gefa&#x0364;hrlicher, als einem<lb/>
&#x017F;olchen ta&#x0364;u&#x017F;chenden Hange &#x017F;ich zu u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en;<lb/>
die warnende Stimme kann nicht fru&#x0364;h genug<lb/>
dem Ju&#x0364;ngling zurufen, &#x017F;ein Inner&#x017F;tes zu pru&#x0364;¬<lb/>
fen, ob nicht der Wun&#x017F;ch bei ihm an die Stel¬<lb/>
le der Kraft tritt, und weil er die&#x017F;e Stelle nie<lb/>
ausfu&#x0364;llen kann, ein ewiges Unbehagen die<lb/>
Strafe verbotenen Genu&#x017F;&#x017F;es bleibt.</p><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[158/0172] habt haͤtte, was ſie ſelbſt nicht ſeyn konnte, und wodurch ihr eigenes Daſeyn ihr veraͤchtlich wurde. Es iſt wohl ein untruͤgliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die ſchon beſtimmte Scene, die er dichten will, noch eher als dieſe Empfindung, oder we¬ nigſtens zugleich mit der Empfindung da iſt. Kurz, wer nicht waͤhrend der Em¬ pfindung zugleich einen Blick in das gan¬ ze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dich¬ tungsvermoͤgen. Und gewiß iſt nichts gefaͤhrlicher, als einem ſolchen taͤuſchenden Hange ſich zu uͤberlaſſen; die warnende Stimme kann nicht fruͤh genug dem Juͤngling zurufen, ſein Innerſtes zu pruͤ¬ fen, ob nicht der Wunſch bei ihm an die Stel¬ le der Kraft tritt, und weil er dieſe Stelle nie ausfuͤllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genuſſes bleibt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/172
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/172>, abgerufen am 21.11.2024.