Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

Dabei war es ihm eine schmeichelhafte Idee,
daß er, als ein Jüngling, sich einen so ernsten
Gegenstand zu besingen wählte; daher hub er
denn auch sein Gedicht an:

Ein Jüngling, der schon früh den Kelch
der Leiden trank, u. s. w.

Als er nun aber zum Werke schritt, und den
ersten Gesang seines Gedichts, wovon er den
Titel schon recht schön hingeschrieben
hatte
, wirklich bearbeiten wollte, fand er sich
in seiner Hofnung einen Reichthum von fürch¬
terlichen Bildern vor sich zu finden, auf das Bit¬
terste getäuscht.

Die Flügel sanken ihm, und er fühlte seine
Seele wie gelähmt, da er nichts, als eine weite
Leere, eine schwarze Oede vor sich erblickte, wo
sich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende
Leben, wie bei der Schilderung des Chaos an¬
bringen ließ, sondern eine ewige Nacht alle Ge¬
stalten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle
Bewegungen fesselte.

Er strengte mit einer Art von Wuth seine
Einbildungskraft an, in diese Dunkelheit Bil¬

M 5

Dabei war es ihm eine ſchmeichelhafte Idee,
daß er, als ein Juͤngling, ſich einen ſo ernſten
Gegenſtand zu beſingen waͤhlte; daher hub er
denn auch ſein Gedicht an:

Ein Juͤngling, der ſchon fruͤh den Kelch
der Leiden trank, u. ſ. w.

Als er nun aber zum Werke ſchritt, und den
erſten Geſang ſeines Gedichts, wovon er den
Titel ſchon recht ſchoͤn hingeſchrieben
hatte
, wirklich bearbeiten wollte, fand er ſich
in ſeiner Hofnung einen Reichthum von fuͤrch¬
terlichen Bildern vor ſich zu finden, auf das Bit¬
terſte getaͤuſcht.

Die Fluͤgel ſanken ihm, und er fuͤhlte ſeine
Seele wie gelaͤhmt, da er nichts, als eine weite
Leere, eine ſchwarze Oede vor ſich erblickte, wo
ſich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende
Leben, wie bei der Schilderung des Chaos an¬
bringen ließ, ſondern eine ewige Nacht alle Ge¬
ſtalten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle
Bewegungen feſſelte.

Er ſtrengte mit einer Art von Wuth ſeine
Einbildungskraft an, in dieſe Dunkelheit Bil¬

M 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0199" n="185"/>
      <p>Dabei war es ihm eine &#x017F;chmeichelhafte Idee,<lb/>
daß er, als ein Ju&#x0364;ngling, &#x017F;ich einen &#x017F;o ern&#x017F;ten<lb/>
Gegen&#x017F;tand zu be&#x017F;ingen wa&#x0364;hlte; daher hub er<lb/>
denn auch &#x017F;ein Gedicht an:</p><lb/>
      <lg type="poem">
        <l>Ein Ju&#x0364;ngling, der &#x017F;chon fru&#x0364;h den Kelch<lb/><hi rendition="#et">der Leiden trank, u. &#x017F;. w.</hi></l>
      </lg><lb/>
      <p>Als er nun aber zum Werke &#x017F;chritt, und den<lb/>
er&#x017F;ten Ge&#x017F;ang &#x017F;eines Gedichts, <hi rendition="#fr">wovon er den<lb/>
Titel &#x017F;chon recht &#x017F;cho&#x0364;n hinge&#x017F;chrieben<lb/>
hatte</hi>, wirklich bearbeiten wollte, fand er &#x017F;ich<lb/>
in &#x017F;einer Hofnung einen Reichthum von fu&#x0364;rch¬<lb/>
terlichen Bildern vor &#x017F;ich zu finden, auf das Bit¬<lb/>
ter&#x017F;te geta&#x0364;u&#x017F;cht.</p><lb/>
      <p>Die Flu&#x0364;gel &#x017F;anken ihm, und er fu&#x0364;hlte &#x017F;eine<lb/>
Seele wie gela&#x0364;hmt, da er nichts, als eine weite<lb/>
Leere, eine &#x017F;chwarze Oede vor &#x017F;ich erblickte, wo<lb/>
&#x017F;ich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende<lb/>
Leben, wie bei der Schilderung des Chaos an¬<lb/>
bringen ließ, &#x017F;ondern eine ewige Nacht alle Ge¬<lb/>
&#x017F;talten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle<lb/>
Bewegungen fe&#x017F;&#x017F;elte.</p><lb/>
      <p>Er &#x017F;trengte mit einer Art von Wuth &#x017F;eine<lb/>
Einbildungskraft an, in die&#x017F;e Dunkelheit Bil¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 5<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185/0199] Dabei war es ihm eine ſchmeichelhafte Idee, daß er, als ein Juͤngling, ſich einen ſo ernſten Gegenſtand zu beſingen waͤhlte; daher hub er denn auch ſein Gedicht an: Ein Juͤngling, der ſchon fruͤh den Kelch der Leiden trank, u. ſ. w. Als er nun aber zum Werke ſchritt, und den erſten Geſang ſeines Gedichts, wovon er den Titel ſchon recht ſchoͤn hingeſchrieben hatte, wirklich bearbeiten wollte, fand er ſich in ſeiner Hofnung einen Reichthum von fuͤrch¬ terlichen Bildern vor ſich zu finden, auf das Bit¬ terſte getaͤuſcht. Die Fluͤgel ſanken ihm, und er fuͤhlte ſeine Seele wie gelaͤhmt, da er nichts, als eine weite Leere, eine ſchwarze Oede vor ſich erblickte, wo ſich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende Leben, wie bei der Schilderung des Chaos an¬ bringen ließ, ſondern eine ewige Nacht alle Ge¬ ſtalten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle Bewegungen feſſelte. Er ſtrengte mit einer Art von Wuth ſeine Einbildungskraft an, in dieſe Dunkelheit Bil¬ M 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/199
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/199>, abgerufen am 24.11.2024.