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Mozart, Leopold: Versuch einer gründlichen Violinschule. Augsburg, 1756.

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Das fünfte Hauptstück.
Wer ein Solo spielt handelt sehr vernünftig, wenn er die leeren Seyten selten
oder gar nicht hören läßt. Der vierte Finger auf der tiefern Nebenseyte wird
allezeit natürlicher und feiner klingen: weil die leeren Seyten gegen den gegriffe-
nen zu laut sind, und gar zu sehr in die Ohren dringen. Nicht weniger wird
ein Solospieler alles, was immer möglich ist, auf einer Seyte heraus zu brin-
gen suchen; um stäts in gleichem Tone zu spielen. Es sind also jene gar nicht
zu loben, welche das piano so still ausdrücken, daß sie sich kaum selbst hören;
bey dem forte aber ein solches Raspeln mit dem Geigebogen anfangen, daß
man, besonders auf den tiefen Seyten, keinen Ton unterscheiden kann, und
lediglich nichts anders, als ein unverständliches Geräusche höret. Wenn nun
auch das beständige Einmischen des sogenannten Flascholets noch dazu kömmt;
so entstehet eine recht lächerliche, und, wegen der Ungleichheit des Tones, eine
wider die Natur selbst streitende Musik, bey der es oft so still wird, daß man
die Ohren spitzen muß, bald aber möchte man wegen dem gähen und unange-
nehmen Gerassel die Ohren verstopfen. Mit dergleichen Spielewerke mögen sich
die, welche zur Fastnachtszeit Lustigmacher abgeben, trefflich hervorthun (b).

§. 14.

Zur Gleichheit und Reinigkeit des Tones trägt auch nicht wenig bey, wenn
man vieles in einem Bogenstriche weis anzubringen. Ja es läuft wider das
Natürliche, wenn man immer absetzet und ändert. Ein Singer der bey ieder
kleinen Figur absetzen, Athem holen, und bald diese bald jene Note besonder
vortragen wollte, würde unfehlbar jedermann zum Lachen bewegen. Die mensch-
liche Stimme ziehet sich ganz ungezwungen von einem Tone in den andern:
und ein vernünftiger Singer wird niemal einen Absatz machen, wenn es nicht
eine besondere Ausdrückung, oder die Abschnitte und Einschnitte erfordern
(c). Und wer weis denn nicht, daß die Singmusik allezeit das Augenmerk

aller
(b) Wer das Flascholet auf der Violin will hören lassen, der thut sehr gut, wenn
er sich eigens Concerte oder Solo darauf setzen läßt, und keine natürliche
Violinklänge darunter mischet.
(c) Die Abschnitte und Einschnitte sind die Incisiones, Distinctiones, Inter-
punctiones,
u. s. f. Was aber dieß vor Thiere sind muß ein guter Gram-
matikus,
noch mehr ein Rhetor und Poet wissen. Hier sieht man aber,
daß es auch ein guter Violinist wissen soll. Einem rechtschaffenen Com-
ponisten
ist diese Wissenschaft unentbehrlich; sonst ist er das fünfte Rad
am Wagen: denn die Diastolica (von diastole) ist eine der nothwendig-
O 2

Das fuͤnfte Hauptſtuͤck.
Wer ein Solo ſpielt handelt ſehr vernuͤnftig, wenn er die leeren Seyten ſelten
oder gar nicht hoͤren laͤßt. Der vierte Finger auf der tiefern Nebenſeyte wird
allezeit natuͤrlicher und feiner klingen: weil die leeren Seyten gegen den gegriffe-
nen zu laut ſind, und gar zu ſehr in die Ohren dringen. Nicht weniger wird
ein Soloſpieler alles, was immer moͤglich iſt, auf einer Seyte heraus zu brin-
gen ſuchen; um ſtaͤts in gleichem Tone zu ſpielen. Es ſind alſo jene gar nicht
zu loben, welche das piano ſo ſtill ausdruͤcken, daß ſie ſich kaum ſelbſt hoͤren;
bey dem forte aber ein ſolches Raſpeln mit dem Geigebogen anfangen, daß
man, beſonders auf den tiefen Seyten, keinen Ton unterſcheiden kann, und
lediglich nichts anders, als ein unverſtaͤndliches Geraͤuſche hoͤret. Wenn nun
auch das beſtaͤndige Einmiſchen des ſogenannten Flaſcholets noch dazu koͤmmt;
ſo entſtehet eine recht laͤcherliche, und, wegen der Ungleichheit des Tones, eine
wider die Natur ſelbſt ſtreitende Muſik, bey der es oft ſo ſtill wird, daß man
die Ohren ſpitzen muß, bald aber moͤchte man wegen dem gaͤhen und unange-
nehmen Geraſſel die Ohren verſtopfen. Mit dergleichen Spielewerke moͤgen ſich
die, welche zur Faſtnachtszeit Luſtigmacher abgeben, trefflich hervorthun (b).

§. 14.

Zur Gleichheit und Reinigkeit des Tones traͤgt auch nicht wenig bey, wenn
man vieles in einem Bogenſtriche weis anzubringen. Ja es laͤuft wider das
Natuͤrliche, wenn man immer abſetzet und aͤndert. Ein Singer der bey ieder
kleinen Figur abſetzen, Athem holen, und bald dieſe bald jene Note beſonder
vortragen wollte, wuͤrde unfehlbar jedermann zum Lachen bewegen. Die menſch-
liche Stimme ziehet ſich ganz ungezwungen von einem Tone in den andern:
und ein vernuͤnftiger Singer wird niemal einen Abſatz machen, wenn es nicht
eine beſondere Ausdruͤckung, oder die Abſchnitte und Einſchnitte erfordern
(c). Und wer weis denn nicht, daß die Singmusik allezeit das Augenmerk

aller
(b) Wer das Flaſcholet auf der Violin will hoͤren laſſen, der thut ſehr gut, wenn
er ſich eigens Concerte oder Solo darauf ſetzen laͤßt, und keine natuͤrliche
Violinklaͤnge darunter miſchet.
(c) Die Abſchnitte und Einſchnitte ſind die Inciſiones, Diſtinctiones, Inter-
punctiones,
u. ſ. f. Was aber dieß vor Thiere ſind muß ein guter Gram-
matikus,
noch mehr ein Rhetor und Poet wiſſen. Hier ſieht man aber,
daß es auch ein guter Violiniſt wiſſen ſoll. Einem rechtſchaffenen Com-
poniſten
iſt dieſe Wiſſenſchaft unentbehrlich; ſonſt iſt er das fuͤnfte Rad
am Wagen: denn die Diaſtolica (von διαστολὴ) iſt eine der nothwendig-
O 2
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[107/0135] Das fuͤnfte Hauptſtuͤck. Wer ein Solo ſpielt handelt ſehr vernuͤnftig, wenn er die leeren Seyten ſelten oder gar nicht hoͤren laͤßt. Der vierte Finger auf der tiefern Nebenſeyte wird allezeit natuͤrlicher und feiner klingen: weil die leeren Seyten gegen den gegriffe- nen zu laut ſind, und gar zu ſehr in die Ohren dringen. Nicht weniger wird ein Soloſpieler alles, was immer moͤglich iſt, auf einer Seyte heraus zu brin- gen ſuchen; um ſtaͤts in gleichem Tone zu ſpielen. Es ſind alſo jene gar nicht zu loben, welche das piano ſo ſtill ausdruͤcken, daß ſie ſich kaum ſelbſt hoͤren; bey dem forte aber ein ſolches Raſpeln mit dem Geigebogen anfangen, daß man, beſonders auf den tiefen Seyten, keinen Ton unterſcheiden kann, und lediglich nichts anders, als ein unverſtaͤndliches Geraͤuſche hoͤret. Wenn nun auch das beſtaͤndige Einmiſchen des ſogenannten Flaſcholets noch dazu koͤmmt; ſo entſtehet eine recht laͤcherliche, und, wegen der Ungleichheit des Tones, eine wider die Natur ſelbſt ſtreitende Muſik, bey der es oft ſo ſtill wird, daß man die Ohren ſpitzen muß, bald aber moͤchte man wegen dem gaͤhen und unange- nehmen Geraſſel die Ohren verſtopfen. Mit dergleichen Spielewerke moͤgen ſich die, welche zur Faſtnachtszeit Luſtigmacher abgeben, trefflich hervorthun (b). §. 14. Zur Gleichheit und Reinigkeit des Tones traͤgt auch nicht wenig bey, wenn man vieles in einem Bogenſtriche weis anzubringen. Ja es laͤuft wider das Natuͤrliche, wenn man immer abſetzet und aͤndert. Ein Singer der bey ieder kleinen Figur abſetzen, Athem holen, und bald dieſe bald jene Note beſonder vortragen wollte, wuͤrde unfehlbar jedermann zum Lachen bewegen. Die menſch- liche Stimme ziehet ſich ganz ungezwungen von einem Tone in den andern: und ein vernuͤnftiger Singer wird niemal einen Abſatz machen, wenn es nicht eine beſondere Ausdruͤckung, oder die Abſchnitte und Einſchnitte erfordern (c). Und wer weis denn nicht, daß die Singmusik allezeit das Augenmerk aller (b) Wer das Flaſcholet auf der Violin will hoͤren laſſen, der thut ſehr gut, wenn er ſich eigens Concerte oder Solo darauf ſetzen laͤßt, und keine natuͤrliche Violinklaͤnge darunter miſchet. (c) Die Abſchnitte und Einſchnitte ſind die Inciſiones, Diſtinctiones, Inter- punctiones, u. ſ. f. Was aber dieß vor Thiere ſind muß ein guter Gram- matikus, noch mehr ein Rhetor und Poet wiſſen. Hier ſieht man aber, daß es auch ein guter Violiniſt wiſſen ſoll. Einem rechtſchaffenen Com- poniſten iſt dieſe Wiſſenſchaft unentbehrlich; ſonſt iſt er das fuͤnfte Rad am Wagen: denn die Diaſtolica (von διαστολὴ) iſt eine der nothwendig- O 2

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Zitationshilfe: Mozart, Leopold: Versuch einer gründlichen Violinschule. Augsburg, 1756, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mozart_violinschule_1756/135>, abgerufen am 19.05.2024.