Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.die kleine Fanny, ihre witzige und naseweise Tochter, welche die Ansichten ihrer Mutter über die Schöngeisterei wie über den Vertreter derselben nicht ganz zu theilen schien, mußte sich manchen Verweis gefallen lassen, wenn sie den Doctor nicht mit der Aufmerksamkeit behandelte, welche dessen Sorge für ihre höhere Ausbildung zu verdienen schien. Ob der Geheimeräthin in diesem Bestreben, das Herz ihrer Tochter dem junger Manne geneigt zu machen, außer dem geistigen Zwecke, noch ein anderer von festerem Gehalt vor Augen schwebte, hat sich nie deutlich erwiesen. Jedoch kann es als wahrscheinlich angenommen werden, daß sie ihm die Hand ihrer Fanny nicht versagt haben würde, wenn er einmal in glänzender Equipage als Rath oder Professor zu einer Werbung vorgefahren wäre; und auch die Tochter hätte ihm dann vielleicht die Langeweile vergeben, die das Vorlesen seiner Verse ihr so oft verursacht haben mochte. Wenn Arthur auf dem Wege nach dem Wilhelmsplatze manchen ernsten und trüben Gedanken Gehör gab, die sich ihm in der Betrachtung seines gegenwärtigen Lebens und der Pläne für seine Zukunft aufdrängten, so gewann doch bald seine lebhafte Phantasie, welche nie müde wurde, ihn mit sich selbst zu täuschen, den Sieg über die scheltende und warnende Vernunft. Er mußte sich zwar gestehen, daß ihm fast ein ganzes Jahr nach seiner Promotion ohne irgend eine Förderung seines ärztlichen Berufes verstrichen die kleine Fanny, ihre witzige und naseweise Tochter, welche die Ansichten ihrer Mutter über die Schöngeisterei wie über den Vertreter derselben nicht ganz zu theilen schien, mußte sich manchen Verweis gefallen lassen, wenn sie den Doctor nicht mit der Aufmerksamkeit behandelte, welche dessen Sorge für ihre höhere Ausbildung zu verdienen schien. Ob der Geheimeräthin in diesem Bestreben, das Herz ihrer Tochter dem junger Manne geneigt zu machen, außer dem geistigen Zwecke, noch ein anderer von festerem Gehalt vor Augen schwebte, hat sich nie deutlich erwiesen. Jedoch kann es als wahrscheinlich angenommen werden, daß sie ihm die Hand ihrer Fanny nicht versagt haben würde, wenn er einmal in glänzender Equipage als Rath oder Professor zu einer Werbung vorgefahren wäre; und auch die Tochter hätte ihm dann vielleicht die Langeweile vergeben, die das Vorlesen seiner Verse ihr so oft verursacht haben mochte. Wenn Arthur auf dem Wege nach dem Wilhelmsplatze manchen ernsten und trüben Gedanken Gehör gab, die sich ihm in der Betrachtung seines gegenwärtigen Lebens und der Pläne für seine Zukunft aufdrängten, so gewann doch bald seine lebhafte Phantasie, welche nie müde wurde, ihn mit sich selbst zu täuschen, den Sieg über die scheltende und warnende Vernunft. Er mußte sich zwar gestehen, daß ihm fast ein ganzes Jahr nach seiner Promotion ohne irgend eine Förderung seines ärztlichen Berufes verstrichen <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0018"/> die kleine Fanny, ihre witzige und naseweise Tochter, welche die Ansichten ihrer Mutter über die Schöngeisterei wie über den Vertreter derselben nicht ganz zu theilen schien, mußte sich manchen Verweis gefallen lassen, wenn sie den Doctor nicht mit der Aufmerksamkeit behandelte, welche dessen Sorge für ihre höhere Ausbildung zu verdienen schien. Ob der Geheimeräthin in diesem Bestreben, das Herz ihrer Tochter dem junger Manne geneigt zu machen, außer dem geistigen Zwecke, noch ein anderer von festerem Gehalt vor Augen schwebte, hat sich nie deutlich erwiesen. Jedoch kann es als wahrscheinlich angenommen werden, daß sie ihm die Hand ihrer Fanny nicht versagt haben würde, wenn er einmal in glänzender Equipage als Rath oder Professor zu einer Werbung vorgefahren wäre; und auch die Tochter hätte ihm dann vielleicht die Langeweile vergeben, die das Vorlesen seiner Verse ihr so oft verursacht haben mochte.</p><lb/> <p>Wenn Arthur auf dem Wege nach dem Wilhelmsplatze manchen ernsten und trüben Gedanken Gehör gab, die sich ihm in der Betrachtung seines gegenwärtigen Lebens und der Pläne für seine Zukunft aufdrängten, so gewann doch bald seine lebhafte Phantasie, welche nie müde wurde, ihn mit sich selbst zu täuschen, den Sieg über die scheltende und warnende Vernunft. Er mußte sich zwar gestehen, daß ihm fast ein ganzes Jahr nach seiner Promotion ohne irgend eine Förderung seines ärztlichen Berufes verstrichen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
die kleine Fanny, ihre witzige und naseweise Tochter, welche die Ansichten ihrer Mutter über die Schöngeisterei wie über den Vertreter derselben nicht ganz zu theilen schien, mußte sich manchen Verweis gefallen lassen, wenn sie den Doctor nicht mit der Aufmerksamkeit behandelte, welche dessen Sorge für ihre höhere Ausbildung zu verdienen schien. Ob der Geheimeräthin in diesem Bestreben, das Herz ihrer Tochter dem junger Manne geneigt zu machen, außer dem geistigen Zwecke, noch ein anderer von festerem Gehalt vor Augen schwebte, hat sich nie deutlich erwiesen. Jedoch kann es als wahrscheinlich angenommen werden, daß sie ihm die Hand ihrer Fanny nicht versagt haben würde, wenn er einmal in glänzender Equipage als Rath oder Professor zu einer Werbung vorgefahren wäre; und auch die Tochter hätte ihm dann vielleicht die Langeweile vergeben, die das Vorlesen seiner Verse ihr so oft verursacht haben mochte.
Wenn Arthur auf dem Wege nach dem Wilhelmsplatze manchen ernsten und trüben Gedanken Gehör gab, die sich ihm in der Betrachtung seines gegenwärtigen Lebens und der Pläne für seine Zukunft aufdrängten, so gewann doch bald seine lebhafte Phantasie, welche nie müde wurde, ihn mit sich selbst zu täuschen, den Sieg über die scheltende und warnende Vernunft. Er mußte sich zwar gestehen, daß ihm fast ein ganzes Jahr nach seiner Promotion ohne irgend eine Förderung seines ärztlichen Berufes verstrichen
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Zitationshilfe: | Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/18>, abgerufen am 16.07.2024. |