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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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Oktob. S. 253. wird von einem Arzte folgender Fall auf-
geführt:

"In Merkendorf bei Anspach lebte noch vor wenig Jah-
ren eine alte stockblinde Hebamme, die mir klagte, daß
nichts sie mehr quäle, als öftere Erscheinungen, nicht von
Geistern, sondern von Thieren und Menschen, die sie leib-
haftig mit grellen Farben vor sich sähe, als ob sie nicht
blind wäre."

58.

Wir sehen aus diesen höchst wichtigen Thatsachen, daß
nach vollkommener Lähmung der Netzhaut oder des äußersten
für äußere Eindrückte bestimmenten Theiles der Sehsinnsub-
stanz, bei der Unmöglichkeit, daß das äußere Elementarische
auf diese ihre Extremität wirken kann, noch andere innere
Theile der Sehsinnsubstanz aus inneren Reizen in Affection
seyn können; wir wissen, daß der Blinde am Tage im
Wachen leuchtende Bilder sieht, was uns im Traume nur
oder bei geschlossenen Augen zurückgezogen von der äußern
Gesichtswelt geschieht, ja daß ein dem Blindgebornen gleich
zu achtender doch Traum-Gestalten sieht.

59.

In der That, wäre bei einem Menschen die ganze Seh-
sinnsubstanz und nicht wie gewöhnlich in der Blindheit bloß
die Netzhaut gelähmt, so könnte er nicht mehr die sinnliche
Anschauung der Ruhe der Sehsinnsubstanz oder des Dunkeln
haben. In der Dunkelheit des ruhigen Sehfeldes begrenzt
die Einbildung noch ihre Gestalten. In der Dunkelheit des
inneren Sehraums Gestalten sehen, und wenn sie auch bloß
Begrenzungen der Dunkelheit wären, kann dem Blindge-
bornen nicht genommen seyn, und ist ihm in der That, wie
wir eben gesehen, nicht genommen. Welche Fragen könnte
man aber an einen Blindgebornen stellen, der, blindgeboren

Oktob. S. 253. wird von einem Arzte folgender Fall auf-
gefuͤhrt:

»In Merkendorf bei Anſpach lebte noch vor wenig Jah-
ren eine alte ſtockblinde Hebamme, die mir klagte, daß
nichts ſie mehr quaͤle, als oͤftere Erſcheinungen, nicht von
Geiſtern, ſondern von Thieren und Menſchen, die ſie leib-
haftig mit grellen Farben vor ſich ſaͤhe, als ob ſie nicht
blind waͤre.«

58.

Wir ſehen aus dieſen hoͤchſt wichtigen Thatſachen, daß
nach vollkommener Laͤhmung der Netzhaut oder des aͤußerſten
fuͤr aͤußere Eindruͤckte beſtimmenten Theiles der Sehſinnſub-
ſtanz, bei der Unmoͤglichkeit, daß das aͤußere Elementariſche
auf dieſe ihre Extremitaͤt wirken kann, noch andere innere
Theile der Sehſinnſubſtanz aus inneren Reizen in Affection
ſeyn koͤnnen; wir wiſſen, daß der Blinde am Tage im
Wachen leuchtende Bilder ſieht, was uns im Traume nur
oder bei geſchloſſenen Augen zuruͤckgezogen von der aͤußern
Geſichtswelt geſchieht, ja daß ein dem Blindgebornen gleich
zu achtender doch Traum-Geſtalten ſieht.

59.

In der That, waͤre bei einem Menſchen die ganze Seh-
ſinnſubſtanz und nicht wie gewoͤhnlich in der Blindheit bloß
die Netzhaut gelaͤhmt, ſo koͤnnte er nicht mehr die ſinnliche
Anſchauung der Ruhe der Sehſinnſubſtanz oder des Dunkeln
haben. In der Dunkelheit des ruhigen Sehfeldes begrenzt
die Einbildung noch ihre Geſtalten. In der Dunkelheit des
inneren Sehraums Geſtalten ſehen, und wenn ſie auch bloß
Begrenzungen der Dunkelheit waͤren, kann dem Blindge-
bornen nicht genommen ſeyn, und iſt ihm in der That, wie
wir eben geſehen, nicht genommen. Welche Fragen koͤnnte
man aber an einen Blindgebornen ſtellen, der, blindgeboren

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[32/0048] Oktob. S. 253. wird von einem Arzte folgender Fall auf- gefuͤhrt: »In Merkendorf bei Anſpach lebte noch vor wenig Jah- ren eine alte ſtockblinde Hebamme, die mir klagte, daß nichts ſie mehr quaͤle, als oͤftere Erſcheinungen, nicht von Geiſtern, ſondern von Thieren und Menſchen, die ſie leib- haftig mit grellen Farben vor ſich ſaͤhe, als ob ſie nicht blind waͤre.« 58. Wir ſehen aus dieſen hoͤchſt wichtigen Thatſachen, daß nach vollkommener Laͤhmung der Netzhaut oder des aͤußerſten fuͤr aͤußere Eindruͤckte beſtimmenten Theiles der Sehſinnſub- ſtanz, bei der Unmoͤglichkeit, daß das aͤußere Elementariſche auf dieſe ihre Extremitaͤt wirken kann, noch andere innere Theile der Sehſinnſubſtanz aus inneren Reizen in Affection ſeyn koͤnnen; wir wiſſen, daß der Blinde am Tage im Wachen leuchtende Bilder ſieht, was uns im Traume nur oder bei geſchloſſenen Augen zuruͤckgezogen von der aͤußern Geſichtswelt geſchieht, ja daß ein dem Blindgebornen gleich zu achtender doch Traum-Geſtalten ſieht. 59. In der That, waͤre bei einem Menſchen die ganze Seh- ſinnſubſtanz und nicht wie gewoͤhnlich in der Blindheit bloß die Netzhaut gelaͤhmt, ſo koͤnnte er nicht mehr die ſinnliche Anſchauung der Ruhe der Sehſinnſubſtanz oder des Dunkeln haben. In der Dunkelheit des ruhigen Sehfeldes begrenzt die Einbildung noch ihre Geſtalten. In der Dunkelheit des inneren Sehraums Geſtalten ſehen, und wenn ſie auch bloß Begrenzungen der Dunkelheit waͤren, kann dem Blindge- bornen nicht genommen ſeyn, und iſt ihm in der That, wie wir eben geſehen, nicht genommen. Welche Fragen koͤnnte man aber an einen Blindgebornen ſtellen, der, blindgeboren

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/48>, abgerufen am 21.11.2024.