Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

schaft mit Menschen überhaupt ausgestoßen, in der sie
unstät in Wald und Feld umherzogen; dabei mußten
sie sich ihren Unterhalt aus den Häusern und Höfen,
in denen sie jetzt als gänzlich fremd angesehn wurden,
durch allerlei schlaue Anschläge und Listen mühsam und
kümmerlich zusammen rauben, den gelegnen Zeitpunkt
oft ganze Nächte hindurch ablauernd, und dabei immer
der Gefahr Schläge zu bekommen ausgesetzt. Zur
Beurtheilung dieser Sitte ist, wenn man unbefangen
verfahren will, kein andrer Gesichtspunkt zu fassen,
als den unser Zusammenhang schon angiebt; die Ver-
hältnisse des Besitzes sollten einen Anlaß mehr zur
Stärkung und Uebung des Muthes und der List her-
geben, dadurch daß sie in einem kleinen Kriege von
einer Seite festgehalten, von der andern angegriffen
wurden; die Verletzung des Eigenthums dabei erschien
als unbedeutend unter einem Volke, das auf Mein und
Dein überhaupt so wenig Gewicht legte, und die nach-
theilige Nachwirkung auf die Sitte wurde noch über-
dies gehoben durch die genaue Bestimmung Dessen,
was geraubt werden durfte 1, welches ungefähr das-
selbe war, was jeder Spartiat, wenn er dessen auf
der Jagd bedurfte, aus den Vorräthen eines Andern
zu nehmen befugt war. Dies war im Ganzen die
Idee, welche der Sitte fortwährenden Bestand gab;
historisch hervorgegangen aber möchte sie sein aus
dem alten Bergleben der Dorier am Oeta und Olym-
pos in beschränkter und gedranger Lage, und in be-
ständigem Kampfe mit den glücklichern Besitzern der

1 osa me koluei nomos Xen. Anab. a. O. vgl. Staat 2,
6. -- Ciceros Behauptung, de rep. 3, 9.: Cretes latrocinari
honestum putant,
muß auch wohl sehr eingeschränkt werden. vgl.
indeß Polyb. 6, 46, 1.

ſchaft mit Menſchen uͤberhaupt ausgeſtoßen, in der ſie
unſtaͤt in Wald und Feld umherzogen; dabei mußten
ſie ſich ihren Unterhalt aus den Haͤuſern und Hoͤfen,
in denen ſie jetzt als gaͤnzlich fremd angeſehn wurden,
durch allerlei ſchlaue Anſchlaͤge und Liſten muͤhſam und
kuͤmmerlich zuſammen rauben, den gelegnen Zeitpunkt
oft ganze Naͤchte hindurch ablauernd, und dabei immer
der Gefahr Schlaͤge zu bekommen ausgeſetzt. Zur
Beurtheilung dieſer Sitte iſt, wenn man unbefangen
verfahren will, kein andrer Geſichtspunkt zu faſſen,
als den unſer Zuſammenhang ſchon angiebt; die Ver-
haͤltniſſe des Beſitzes ſollten einen Anlaß mehr zur
Staͤrkung und Uebung des Muthes und der Liſt her-
geben, dadurch daß ſie in einem kleinen Kriege von
einer Seite feſtgehalten, von der andern angegriffen
wurden; die Verletzung des Eigenthums dabei erſchien
als unbedeutend unter einem Volke, das auf Mein und
Dein uͤberhaupt ſo wenig Gewicht legte, und die nach-
theilige Nachwirkung auf die Sitte wurde noch uͤber-
dies gehoben durch die genaue Beſtimmung Deſſen,
was geraubt werden durfte 1, welches ungefaͤhr das-
ſelbe war, was jeder Spartiat, wenn er deſſen auf
der Jagd bedurfte, aus den Vorraͤthen eines Andern
zu nehmen befugt war. Dies war im Ganzen die
Idee, welche der Sitte fortwaͤhrenden Beſtand gab;
hiſtoriſch hervorgegangen aber moͤchte ſie ſein aus
dem alten Bergleben der Dorier am Oeta und Olym-
pos in beſchraͤnkter und gedranger Lage, und in be-
ſtaͤndigem Kampfe mit den gluͤcklichern Beſitzern der

1 ὅσα μὴ κωλύει νόμος Xen. Anab. a. O. vgl. Staat 2,
6. — Ciceros Behauptung, de rep. 3, 9.: Cretes latrocinari
honestum putant,
muß auch wohl ſehr eingeſchraͤnkt werden. vgl.
indeß Polyb. 6, 46, 1.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0317" n="311"/>
&#x017F;chaft mit Men&#x017F;chen u&#x0364;berhaupt ausge&#x017F;toßen, in der &#x017F;ie<lb/>
un&#x017F;ta&#x0364;t in Wald und Feld umherzogen; dabei mußten<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich ihren Unterhalt aus den Ha&#x0364;u&#x017F;ern und Ho&#x0364;fen,<lb/>
in denen &#x017F;ie jetzt als ga&#x0364;nzlich fremd ange&#x017F;ehn wurden,<lb/>
durch allerlei &#x017F;chlaue An&#x017F;chla&#x0364;ge und Li&#x017F;ten mu&#x0364;h&#x017F;am und<lb/>
ku&#x0364;mmerlich zu&#x017F;ammen rauben, den gelegnen Zeitpunkt<lb/>
oft ganze Na&#x0364;chte hindurch ablauernd, und dabei immer<lb/>
der Gefahr Schla&#x0364;ge zu bekommen ausge&#x017F;etzt. Zur<lb/>
Beurtheilung die&#x017F;er Sitte i&#x017F;t, wenn man unbefangen<lb/>
verfahren will, kein andrer Ge&#x017F;ichtspunkt zu fa&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
als den un&#x017F;er Zu&#x017F;ammenhang &#x017F;chon angiebt; die Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e des Be&#x017F;itzes &#x017F;ollten einen Anlaß mehr zur<lb/>
Sta&#x0364;rkung und Uebung des Muthes und der Li&#x017F;t her-<lb/>
geben, dadurch daß &#x017F;ie in einem kleinen Kriege von<lb/>
einer Seite fe&#x017F;tgehalten, von der andern angegriffen<lb/>
wurden; die Verletzung des Eigenthums dabei er&#x017F;chien<lb/>
als unbedeutend unter einem Volke, das auf Mein und<lb/>
Dein u&#x0364;berhaupt &#x017F;o wenig Gewicht legte, und die nach-<lb/>
theilige Nachwirkung auf die Sitte wurde noch u&#x0364;ber-<lb/>
dies gehoben durch die genaue Be&#x017F;timmung De&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
was geraubt werden durfte <note place="foot" n="1">&#x1F45;&#x03C3;&#x03B1; &#x03BC;&#x1F74; &#x03BA;&#x03C9;&#x03BB;&#x03CD;&#x03B5;&#x03B9; &#x03BD;&#x03CC;&#x03BC;&#x03BF;&#x03C2; Xen. Anab. a. O. vgl. Staat 2,<lb/>
6. &#x2014; Ciceros Behauptung, <hi rendition="#aq">de rep.</hi> 3, 9.: <hi rendition="#aq">Cretes latrocinari<lb/>
honestum putant,</hi> muß auch wohl &#x017F;ehr einge&#x017F;chra&#x0364;nkt werden. vgl.<lb/>
indeß Polyb. 6, 46, 1.</note>, welches ungefa&#x0364;hr das-<lb/>
&#x017F;elbe war, was jeder Spartiat, wenn er de&#x017F;&#x017F;en auf<lb/>
der Jagd bedurfte, aus den Vorra&#x0364;then eines Andern<lb/>
zu nehmen befugt war. Dies war im Ganzen die<lb/>
Idee, welche der Sitte fortwa&#x0364;hrenden Be&#x017F;tand gab;<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;ch hervorgegangen aber mo&#x0364;chte &#x017F;ie &#x017F;ein aus<lb/>
dem alten Bergleben der Dorier am Oeta und Olym-<lb/>
pos in be&#x017F;chra&#x0364;nkter und gedranger Lage, und in be-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndigem Kampfe mit den glu&#x0364;cklichern Be&#x017F;itzern der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[311/0317] ſchaft mit Menſchen uͤberhaupt ausgeſtoßen, in der ſie unſtaͤt in Wald und Feld umherzogen; dabei mußten ſie ſich ihren Unterhalt aus den Haͤuſern und Hoͤfen, in denen ſie jetzt als gaͤnzlich fremd angeſehn wurden, durch allerlei ſchlaue Anſchlaͤge und Liſten muͤhſam und kuͤmmerlich zuſammen rauben, den gelegnen Zeitpunkt oft ganze Naͤchte hindurch ablauernd, und dabei immer der Gefahr Schlaͤge zu bekommen ausgeſetzt. Zur Beurtheilung dieſer Sitte iſt, wenn man unbefangen verfahren will, kein andrer Geſichtspunkt zu faſſen, als den unſer Zuſammenhang ſchon angiebt; die Ver- haͤltniſſe des Beſitzes ſollten einen Anlaß mehr zur Staͤrkung und Uebung des Muthes und der Liſt her- geben, dadurch daß ſie in einem kleinen Kriege von einer Seite feſtgehalten, von der andern angegriffen wurden; die Verletzung des Eigenthums dabei erſchien als unbedeutend unter einem Volke, das auf Mein und Dein uͤberhaupt ſo wenig Gewicht legte, und die nach- theilige Nachwirkung auf die Sitte wurde noch uͤber- dies gehoben durch die genaue Beſtimmung Deſſen, was geraubt werden durfte 1, welches ungefaͤhr das- ſelbe war, was jeder Spartiat, wenn er deſſen auf der Jagd bedurfte, aus den Vorraͤthen eines Andern zu nehmen befugt war. Dies war im Ganzen die Idee, welche der Sitte fortwaͤhrenden Beſtand gab; hiſtoriſch hervorgegangen aber moͤchte ſie ſein aus dem alten Bergleben der Dorier am Oeta und Olym- pos in beſchraͤnkter und gedranger Lage, und in be- ſtaͤndigem Kampfe mit den gluͤcklichern Beſitzern der 1 ὅσα μὴ κωλύει νόμος Xen. Anab. a. O. vgl. Staat 2, 6. — Ciceros Behauptung, de rep. 3, 9.: Cretes latrocinari honestum putant, muß auch wohl ſehr eingeſchraͤnkt werden. vgl. indeß Polyb. 6, 46, 1.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/317
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/317>, abgerufen am 21.11.2024.