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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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eines einzelnen Menschen auf diese Weise zusammenzu-
fassen? und geben alle solche Prädikate dem, der ihn
nicht kennt, eine Anschauung seines Wesens? und
sollte dasselbe bei einer Nation, die doch nur wieder
eine größre Person, statt finden? Womit wir aber
keineswegs dem entgegengesetzten Irrthum freie Bahn
geben wollen; welcher entweder ganz läugnet oder für
geschichtlich unerkennbar hält, daß das Leben einer
Nation überhaupt in sich eins, und die Eigenthüm-
lichkeit derselben eine einige sei -- ein Irrthum, den
die Betrachtung der Griechischen Völkerstämme vielleicht
am sichersten hebt. Aber wir werden diese allerdings
vorhandne Einheit nie durch einen Begriff mathematisch
decken, sondern immer nur annäherungsweise erkennen,
indem wir ihr um desto näher kommen, je unbefangner
wir uns das Gegebne anzueignen, und je hingebender
wir dasselbe in sich zu verstehen suchen. Auf diesem
Wege wird uns auch die Ueberzeugung werden, wie
von diesem Kern aus das ganze Dasein und Leben
des Volkes sich mit Nothwendigkeit gestaltet hat, und
wenn wir in größerm Kreise forschen, vielleicht auch
die Ahnung, daß das gefundne Ganze selbst nur ein
nothwendiger Theil eines höhern ist: wovon wir aber
ganz und gar die Anmaßung construirender Philosophen
zu unterscheiden bitten, die einen andern Weg dieser
Erkenntniß gefunden haben wollen als durch solche
Aneignung, ohne doch je auch nur im Kleinsten die
Idee eines bestimmten individuellen Lebens für sich
erzeugen zu können. Geht uns nun aber auf die be-
schriebne Weise allgemach die Idee einer nationalen
Individualität auf: so müssen wir dieselbe auch Andern
auf mancherlei Weise näher rücken und deutlich machen
können: einfach bezeichnen aber werden wir sie durch
keinen andren Ausdruck, als durch den Eigennamen

eines einzelnen Menſchen auf dieſe Weiſe zuſammenzu-
faſſen? und geben alle ſolche Praͤdikate dem, der ihn
nicht kennt, eine Anſchauung ſeines Weſens? und
ſollte daſſelbe bei einer Nation, die doch nur wieder
eine groͤßre Perſon, ſtatt finden? Womit wir aber
keineswegs dem entgegengeſetzten Irrthum freie Bahn
geben wollen; welcher entweder ganz laͤugnet oder fuͤr
geſchichtlich unerkennbar haͤlt, daß das Leben einer
Nation uͤberhaupt in ſich eins, und die Eigenthuͤm-
lichkeit derſelben eine einige ſei — ein Irrthum, den
die Betrachtung der Griechiſchen Voͤlkerſtaͤmme vielleicht
am ſicherſten hebt. Aber wir werden dieſe allerdings
vorhandne Einheit nie durch einen Begriff mathematiſch
decken, ſondern immer nur annaͤherungsweiſe erkennen,
indem wir ihr um deſto naͤher kommen, je unbefangner
wir uns das Gegebne anzueignen, und je hingebender
wir daſſelbe in ſich zu verſtehen ſuchen. Auf dieſem
Wege wird uns auch die Ueberzeugung werden, wie
von dieſem Kern aus das ganze Daſein und Leben
des Volkes ſich mit Nothwendigkeit geſtaltet hat, und
wenn wir in groͤßerm Kreiſe forſchen, vielleicht auch
die Ahnung, daß das gefundne Ganze ſelbſt nur ein
nothwendiger Theil eines hoͤhern iſt: wovon wir aber
ganz und gar die Anmaßung conſtruirender Philoſophen
zu unterſcheiden bitten, die einen andern Weg dieſer
Erkenntniß gefunden haben wollen als durch ſolche
Aneignung, ohne doch je auch nur im Kleinſten die
Idee eines beſtimmten individuellen Lebens fuͤr ſich
erzeugen zu koͤnnen. Geht uns nun aber auf die be-
ſchriebne Weiſe allgemach die Idee einer nationalen
Individualitaͤt auf: ſo muͤſſen wir dieſelbe auch Andern
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[402/0408] eines einzelnen Menſchen auf dieſe Weiſe zuſammenzu- faſſen? und geben alle ſolche Praͤdikate dem, der ihn nicht kennt, eine Anſchauung ſeines Weſens? und ſollte daſſelbe bei einer Nation, die doch nur wieder eine groͤßre Perſon, ſtatt finden? Womit wir aber keineswegs dem entgegengeſetzten Irrthum freie Bahn geben wollen; welcher entweder ganz laͤugnet oder fuͤr geſchichtlich unerkennbar haͤlt, daß das Leben einer Nation uͤberhaupt in ſich eins, und die Eigenthuͤm- lichkeit derſelben eine einige ſei — ein Irrthum, den die Betrachtung der Griechiſchen Voͤlkerſtaͤmme vielleicht am ſicherſten hebt. Aber wir werden dieſe allerdings vorhandne Einheit nie durch einen Begriff mathematiſch decken, ſondern immer nur annaͤherungsweiſe erkennen, indem wir ihr um deſto naͤher kommen, je unbefangner wir uns das Gegebne anzueignen, und je hingebender wir daſſelbe in ſich zu verſtehen ſuchen. Auf dieſem Wege wird uns auch die Ueberzeugung werden, wie von dieſem Kern aus das ganze Daſein und Leben des Volkes ſich mit Nothwendigkeit geſtaltet hat, und wenn wir in groͤßerm Kreiſe forſchen, vielleicht auch die Ahnung, daß das gefundne Ganze ſelbſt nur ein nothwendiger Theil eines hoͤhern iſt: wovon wir aber ganz und gar die Anmaßung conſtruirender Philoſophen zu unterſcheiden bitten, die einen andern Weg dieſer Erkenntniß gefunden haben wollen als durch ſolche Aneignung, ohne doch je auch nur im Kleinſten die Idee eines beſtimmten individuellen Lebens fuͤr ſich erzeugen zu koͤnnen. Geht uns nun aber auf die be- ſchriebne Weiſe allgemach die Idee einer nationalen Individualitaͤt auf: ſo muͤſſen wir dieſelbe auch Andern auf mancherlei Weiſe naͤher ruͤcken und deutlich machen koͤnnen: einfach bezeichnen aber werden wir ſie durch keinen andren Ausdruck, als durch den Eigennamen

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/408>, abgerufen am 24.11.2024.