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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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von Halikarnaß eine Rede für das Volk ausarbeiten 1.
Die Art zu stimmen, durch Zuruf und Geschrei, hat
freilich etwas Rohes, doch den Vortheil, daß sie nicht
blos die Zahl der Billigenden und Verneinenden, son-
dern auch die Intensität des Willens derselben, nach
alter Sitteneinfachheit ziemlich richtig, angiebt.

11.

Die Kretische Volksversammlung stand nach
einzelnen Spuren der Lakonischen gleich; sie begriff
ebenfalls alle (eigentlichen) Bürger in sich, und durfte
dem Beschlusse der Vorsteher (Kosmen oder Geronten)
auch nur mit Ja oder Nein antworten 2. In den
übrigen Dorischen Staaten hängt ihre Bedeutung zu
sehr von der geschichtlichen Epoche ab, in welcher sich
dieselben gerade befinden, als daß die Zusammenstellung
der einzelnen Nachrichten an dieser Stelle ein Ganzes
bilden könnte. Volksversammlungen gab es überall,
wenn nicht Tyrannis sie aufhob, und auch diese that
es nicht immer: auch waren sie überall Darstellungen
der höchsten Gewalt und Souveränität des Volkes,
denn was das Volk thun sollte, mußte nach alter Denk-
art sein Wille sein: aber daß dieser Wille wohl gelei-
tet, und daß die höchste Entscheidung nicht der blin-
den Willkühr der unverständigen Masse hingegeben
werde: das war die Aufgabe, die der Dorische Staat
sich zu lösen vorgesetzt hatte.



1 Plut. Lys. 25. Ages. 20.
2 Aristot. Pol. 2, 7, 4.
kuria d' oudenos estin, all' e sunepipsephisai ta doxanta tois
gerousi kai tois kosmois, was cum grano salis zu verstehen ist.
vgl. oben S. 85.

von Halikarnaß eine Rede fuͤr das Volk ausarbeiten 1.
Die Art zu ſtimmen, durch Zuruf und Geſchrei, hat
freilich etwas Rohes, doch den Vortheil, daß ſie nicht
blos die Zahl der Billigenden und Verneinenden, ſon-
dern auch die Intenſitaͤt des Willens derſelben, nach
alter Sitteneinfachheit ziemlich richtig, angiebt.

11.

Die Kretiſche Volksverſammlung ſtand nach
einzelnen Spuren der Lakoniſchen gleich; ſie begriff
ebenfalls alle (eigentlichen) Buͤrger in ſich, und durfte
dem Beſchluſſe der Vorſteher (Kosmen oder Geronten)
auch nur mit Ja oder Nein antworten 2. In den
uͤbrigen Doriſchen Staaten haͤngt ihre Bedeutung zu
ſehr von der geſchichtlichen Epoche ab, in welcher ſich
dieſelben gerade befinden, als daß die Zuſammenſtellung
der einzelnen Nachrichten an dieſer Stelle ein Ganzes
bilden koͤnnte. Volksverſammlungen gab es uͤberall,
wenn nicht Tyrannis ſie aufhob, und auch dieſe that
es nicht immer: auch waren ſie uͤberall Darſtellungen
der hoͤchſten Gewalt und Souveraͤnitaͤt des Volkes,
denn was das Volk thun ſollte, mußte nach alter Denk-
art ſein Wille ſein: aber daß dieſer Wille wohl gelei-
tet, und daß die hoͤchſte Entſcheidung nicht der blin-
den Willkuͤhr der unverſtaͤndigen Maſſe hingegeben
werde: das war die Aufgabe, die der Doriſche Staat
ſich zu loͤſen vorgeſetzt hatte.



1 Plut. Lyſ. 25. Ageſ. 20.
2 Ariſtot. Pol. 2, 7, 4.
κυϱἰα δ᾿ οὐδενός ἐστιν, ἀλλ᾿ ἢ συνεπιψηφίσαι τὰ δόξαντα τοῖς
γέϱουσι καὶ τοῖς κόσμοις, was cum grano salis zu verſtehen iſt.
vgl. oben S. 85.
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[90/0096] von Halikarnaß eine Rede fuͤr das Volk ausarbeiten 1. Die Art zu ſtimmen, durch Zuruf und Geſchrei, hat freilich etwas Rohes, doch den Vortheil, daß ſie nicht blos die Zahl der Billigenden und Verneinenden, ſon- dern auch die Intenſitaͤt des Willens derſelben, nach alter Sitteneinfachheit ziemlich richtig, angiebt. 11. Die Kretiſche Volksverſammlung ſtand nach einzelnen Spuren der Lakoniſchen gleich; ſie begriff ebenfalls alle (eigentlichen) Buͤrger in ſich, und durfte dem Beſchluſſe der Vorſteher (Kosmen oder Geronten) auch nur mit Ja oder Nein antworten 2. In den uͤbrigen Doriſchen Staaten haͤngt ihre Bedeutung zu ſehr von der geſchichtlichen Epoche ab, in welcher ſich dieſelben gerade befinden, als daß die Zuſammenſtellung der einzelnen Nachrichten an dieſer Stelle ein Ganzes bilden koͤnnte. Volksverſammlungen gab es uͤberall, wenn nicht Tyrannis ſie aufhob, und auch dieſe that es nicht immer: auch waren ſie uͤberall Darſtellungen der hoͤchſten Gewalt und Souveraͤnitaͤt des Volkes, denn was das Volk thun ſollte, mußte nach alter Denk- art ſein Wille ſein: aber daß dieſer Wille wohl gelei- tet, und daß die hoͤchſte Entſcheidung nicht der blin- den Willkuͤhr der unverſtaͤndigen Maſſe hingegeben werde: das war die Aufgabe, die der Doriſche Staat ſich zu loͤſen vorgeſetzt hatte. 1 Plut. Lyſ. 25. Ageſ. 20. 2 Ariſtot. Pol. 2, 7, 4. κυϱἰα δ᾿ οὐδενός ἐστιν, ἀλλ᾿ ἢ συνεπιψηφίσαι τὰ δόξαντα τοῖς γέϱουσι καὶ τοῖς κόσμοις, was cum grano salis zu verſtehen iſt. vgl. oben S. 85.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/96>, abgerufen am 24.11.2024.