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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Systematischer Theil.
zu allen Zeiten auch Nebenwege (s. z. B. §. 123.), das
von der Gestalt aufnehmen zu müssen, was uns im Ver-
hältniß zum innern Leben unwesentlich und als eine reine
Zufälligkeit erscheint; obgleich es wahr ist, daß auch dies
in seinem dunkeln Zusammenhange mit dem Gesammten
einen besondern Reiz und eigenthümlichen Werth (den der
2Individualisirung) haben kann. Dagegen entwickelten sich
in den Griechischen Kunstschulen Formen, welche dem
nationalen Sinn und Gefühl als die des vollendeten und
ungestört entwickelten Organismus, als die wahrhaft ge-
sunden erschienen, und darum im Allgemeinen der Dar-
stellung eines höhern Lebens zum Grunde gelegt wurden
3(die sogenannten Idealformen). Einfachheit und Groß-
heit sind die Haupteigenschaft dieser Formen, woraus
zwar keine Vernachläfsigung der Details, aber eine Un-
terordnung der Nebenpartieen unter die Hauptformen her-
vorgeht, welche der ganzen Darstellung eine höhere Klar-
4heit verleiht. Theils als natürliche Modificationen
dieser Grundformen, theils auch als absichtliche Verbil-
dungen erscheinen die verschiedenen Charaktere, welche
das Leben in seinen mannigfachen Richtungen und Sei-
5ten künstlerisch darstellen. Wenn es daher nöthig ist, auf
der einen Seite die Formen kennen zu lernen, welche dem
Griechischen Sinn als die allgemein richtigen erschienen:
so kömmt eben so viel darauf an, sich der Bedeutung
bewußt zu werden, welche der Grieche in der besondern
Bildung eines jeden Theils wahrnahm.

3. Ueber diesen Grundsatz Emeric David Recherches sur l'art
statuaire consideree chez les anciens et chez les moder-
nes.
Außer den Forderungen des Kunstwerks im Allgemeinen,
welche auf Deutlichkeit und harmonisches Zusammenwirken gehn,
kommen hier auch die besondern Forderungen des Stoffes in An-
schlag. Der todte Stoff verträgt weniger Mannigfaltigkeit von De-
tails, als der lebendige Körper zeigt; in eine starre spröde Masse über-
tragen erscheint Vieles störend und widrig, was im Leben vortheil-
haft zum Ganzen wirkt. Vgl. §. 25, 1. Auch haben wohl ver-
schiedne Stoffe verschiedne Gesetze; es scheint nach einigen Fragmen-
ten, daß in Bronze die Alten mehr von den Adern und andern

Syſtematiſcher Theil.
zu allen Zeiten auch Nebenwege (ſ. z. B. §. 123.), das
von der Geſtalt aufnehmen zu muͤſſen, was uns im Ver-
haͤltniß zum innern Leben unweſentlich und als eine reine
Zufaͤlligkeit erſcheint; obgleich es wahr iſt, daß auch dies
in ſeinem dunkeln Zuſammenhange mit dem Geſammten
einen beſondern Reiz und eigenthuͤmlichen Werth (den der
2Individualiſirung) haben kann. Dagegen entwickelten ſich
in den Griechiſchen Kunſtſchulen Formen, welche dem
nationalen Sinn und Gefuͤhl als die des vollendeten und
ungeſtoͤrt entwickelten Organismus, als die wahrhaft ge-
ſunden erſchienen, und darum im Allgemeinen der Dar-
ſtellung eines hoͤhern Lebens zum Grunde gelegt wurden
3(die ſogenannten Idealformen). Einfachheit und Groß-
heit ſind die Haupteigenſchaft dieſer Formen, woraus
zwar keine Vernachlaͤfſigung der Details, aber eine Un-
terordnung der Nebenpartieen unter die Hauptformen her-
vorgeht, welche der ganzen Darſtellung eine hoͤhere Klar-
4heit verleiht. Theils als natuͤrliche Modificationen
dieſer Grundformen, theils auch als abſichtliche Verbil-
dungen erſcheinen die verſchiedenen Charaktere, welche
das Leben in ſeinen mannigfachen Richtungen und Sei-
5ten kuͤnſtleriſch darſtellen. Wenn es daher noͤthig iſt, auf
der einen Seite die Formen kennen zu lernen, welche dem
Griechiſchen Sinn als die allgemein richtigen erſchienen:
ſo koͤmmt eben ſo viel darauf an, ſich der Bedeutung
bewußt zu werden, welche der Grieche in der beſondern
Bildung eines jeden Theils wahrnahm.

3. Ueber dieſen Grundſatz Eméric David Recherches sur l’art
statuaire considérée chez les anciens et chez les moder-
nes.
Außer den Forderungen des Kunſtwerks im Allgemeinen,
welche auf Deutlichkeit und harmoniſches Zuſammenwirken gehn,
kommen hier auch die beſondern Forderungen des Stoffes in An-
ſchlag. Der todte Stoff verträgt weniger Mannigfaltigkeit von De-
tails, als der lebendige Körper zeigt; in eine ſtarre ſpröde Maſſe über-
tragen erſcheint Vieles ſtörend und widrig, was im Leben vortheil-
haft zum Ganzen wirkt. Vgl. §. 25, 1. Auch haben wohl ver-
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ten, daß in Bronze die Alten mehr von den Adern und andern

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[402/0424] Syſtematiſcher Theil. zu allen Zeiten auch Nebenwege (ſ. z. B. §. 123.), das von der Geſtalt aufnehmen zu muͤſſen, was uns im Ver- haͤltniß zum innern Leben unweſentlich und als eine reine Zufaͤlligkeit erſcheint; obgleich es wahr iſt, daß auch dies in ſeinem dunkeln Zuſammenhange mit dem Geſammten einen beſondern Reiz und eigenthuͤmlichen Werth (den der Individualiſirung) haben kann. Dagegen entwickelten ſich in den Griechiſchen Kunſtſchulen Formen, welche dem nationalen Sinn und Gefuͤhl als die des vollendeten und ungeſtoͤrt entwickelten Organismus, als die wahrhaft ge- ſunden erſchienen, und darum im Allgemeinen der Dar- ſtellung eines hoͤhern Lebens zum Grunde gelegt wurden (die ſogenannten Idealformen). Einfachheit und Groß- heit ſind die Haupteigenſchaft dieſer Formen, woraus zwar keine Vernachlaͤfſigung der Details, aber eine Un- terordnung der Nebenpartieen unter die Hauptformen her- vorgeht, welche der ganzen Darſtellung eine hoͤhere Klar- heit verleiht. Theils als natuͤrliche Modificationen dieſer Grundformen, theils auch als abſichtliche Verbil- dungen erſcheinen die verſchiedenen Charaktere, welche das Leben in ſeinen mannigfachen Richtungen und Sei- ten kuͤnſtleriſch darſtellen. Wenn es daher noͤthig iſt, auf der einen Seite die Formen kennen zu lernen, welche dem Griechiſchen Sinn als die allgemein richtigen erſchienen: ſo koͤmmt eben ſo viel darauf an, ſich der Bedeutung bewußt zu werden, welche der Grieche in der beſondern Bildung eines jeden Theils wahrnahm. 2 3 4 5 3. Ueber dieſen Grundſatz Eméric David Recherches sur l’art statuaire considérée chez les anciens et chez les moder- nes. Außer den Forderungen des Kunſtwerks im Allgemeinen, welche auf Deutlichkeit und harmoniſches Zuſammenwirken gehn, kommen hier auch die beſondern Forderungen des Stoffes in An- ſchlag. Der todte Stoff verträgt weniger Mannigfaltigkeit von De- tails, als der lebendige Körper zeigt; in eine ſtarre ſpröde Maſſe über- tragen erſcheint Vieles ſtörend und widrig, was im Leben vortheil- haft zum Ganzen wirkt. Vgl. §. 25, 1. Auch haben wohl ver- ſchiedne Stoffe verſchiedne Geſetze; es ſcheint nach einigen Fragmen- ten, daß in Bronze die Alten mehr von den Adern und andern

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/424>, abgerufen am 22.11.2024.