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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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II. Bildende Kunst. Gegenstände.
als eine Jungfrau aus ätherischer Höhe gedacht wird,
welche in dieser Welt bald Licht und Wärme und gedeih-
liches Leben spendend eintritt, bald aber auch feindliche
Wesen (namentlich die wunderbar mit ihr zusammenhän-
gende Gorgo) vernichtet. Wenn in der ältesten Anschau-2
ungsweise Physisches und Geistiges eng verbunden, und
diese ätherische Jungfrau zugleich als Zeus Verstand, als
die in Zeus aufgenommene und wiedergeborne Metis (nach
Hesiod), gedacht wurde: so überwog, dem allgemeinen
Entwickelungsgesetz des Griechischen Lebens gemäß, in
Homerischer Zeit schon lange die letztre Vorstellung; und
Athena war die kräftig abwehrende, und freundlich ra-
thende, immer aber das Vorliegende mit klarem Ver-
stande und ruhigem Urtheil erwägende und ausführende
Göttin: eine Freundin jedes Standes und jedes Menschen,
der Tüchtiges mit gesunden Sinnen angreift und voll-
bringt. Die Kunst, welche in früheren Zeiten die3
Pallas fast vor allen andern Gottheiten ins Auge gefaßt
hatte, stellte in den alten Palladien (§. 68), welche mit
erhobenem Schilde und gezücktem Speer gebildet wurden,
besonders die vorkämpfende Gottheit (alalkomene) dar;
doch wurde ihr daneben in die Linke auch Rocken und4
Spindel zur Bezeichnung friedlicher Gesinnung gegeben,
dergleichen Symbole bei Sitzbildern, die nicht Palladien
genannt werden, vorherrschend waren. In der vorge-5
schrittenen altgriechischen Kunst erscheint sie im steifge-
falteten Peplos über dem Chiton, mit großer Aegis, die
bisweilen auch als Schild dienend über dem linken Arme
lag, oder außer der Brust auch den ganzen Rücken be-
deckte: dagegen sie später immer mehr zusammengezogen
wird. Die Umrisse des Körpers haben in Hüften und6
Brust wenig von weiblicher Fülle, dagegen sind die For-
men der Beine, Arme, des Rückens schon mehr auf
männliche Weise ausgebildet als bei der Artemis. Das7
Gesicht hat bereits die eigenthümliche Form, welche die
vervollkommnete Kunst weiter entwickelte, aber die Züge
sind herb und anmuthlos.

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II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde.
als eine Jungfrau aus aͤtheriſcher Hoͤhe gedacht wird,
welche in dieſer Welt bald Licht und Waͤrme und gedeih-
liches Leben ſpendend eintritt, bald aber auch feindliche
Weſen (namentlich die wunderbar mit ihr zuſammenhaͤn-
gende Gorgo) vernichtet. Wenn in der aͤlteſten Anſchau-2
ungsweiſe Phyſiſches und Geiſtiges eng verbunden, und
dieſe aͤtheriſche Jungfrau zugleich als Zeus Verſtand, als
die in Zeus aufgenommene und wiedergeborne Metis (nach
Heſiod), gedacht wurde: ſo uͤberwog, dem allgemeinen
Entwickelungsgeſetz des Griechiſchen Lebens gemaͤß, in
Homeriſcher Zeit ſchon lange die letztre Vorſtellung; und
Athena war die kraͤftig abwehrende, und freundlich ra-
thende, immer aber das Vorliegende mit klarem Ver-
ſtande und ruhigem Urtheil erwaͤgende und ausfuͤhrende
Goͤttin: eine Freundin jedes Standes und jedes Menſchen,
der Tuͤchtiges mit geſunden Sinnen angreift und voll-
bringt. Die Kunſt, welche in fruͤheren Zeiten die3
Pallas faſt vor allen andern Gottheiten ins Auge gefaßt
hatte, ſtellte in den alten Palladien (§. 68), welche mit
erhobenem Schilde und gezuͤcktem Speer gebildet wurden,
beſonders die vorkaͤmpfende Gottheit (ἀλαλκομένη) dar;
doch wurde ihr daneben in die Linke auch Rocken und4
Spindel zur Bezeichnung friedlicher Geſinnung gegeben,
dergleichen Symbole bei Sitzbildern, die nicht Palladien
genannt werden, vorherrſchend waren. In der vorge-5
ſchrittenen altgriechiſchen Kunſt erſcheint ſie im ſteifge-
falteten Peplos uͤber dem Chiton, mit großer Aegis, die
bisweilen auch als Schild dienend uͤber dem linken Arme
lag, oder außer der Bruſt auch den ganzen Ruͤcken be-
deckte: dagegen ſie ſpaͤter immer mehr zuſammengezogen
wird. Die Umriſſe des Koͤrpers haben in Huͤften und6
Bruſt wenig von weiblicher Fuͤlle, dagegen ſind die For-
men der Beine, Arme, des Ruͤckens ſchon mehr auf
maͤnnliche Weiſe ausgebildet als bei der Artemis. Das7
Geſicht hat bereits die eigenthuͤmliche Form, welche die
vervollkommnete Kunſt weiter entwickelte, aber die Zuͤge
ſind herb und anmuthlos.

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[481/0503] II. Bildende Kunſt. Gegenſtaͤnde. als eine Jungfrau aus aͤtheriſcher Hoͤhe gedacht wird, welche in dieſer Welt bald Licht und Waͤrme und gedeih- liches Leben ſpendend eintritt, bald aber auch feindliche Weſen (namentlich die wunderbar mit ihr zuſammenhaͤn- gende Gorgo) vernichtet. Wenn in der aͤlteſten Anſchau- ungsweiſe Phyſiſches und Geiſtiges eng verbunden, und dieſe aͤtheriſche Jungfrau zugleich als Zeus Verſtand, als die in Zeus aufgenommene und wiedergeborne Metis (nach Heſiod), gedacht wurde: ſo uͤberwog, dem allgemeinen Entwickelungsgeſetz des Griechiſchen Lebens gemaͤß, in Homeriſcher Zeit ſchon lange die letztre Vorſtellung; und Athena war die kraͤftig abwehrende, und freundlich ra- thende, immer aber das Vorliegende mit klarem Ver- ſtande und ruhigem Urtheil erwaͤgende und ausfuͤhrende Goͤttin: eine Freundin jedes Standes und jedes Menſchen, der Tuͤchtiges mit geſunden Sinnen angreift und voll- bringt. Die Kunſt, welche in fruͤheren Zeiten die Pallas faſt vor allen andern Gottheiten ins Auge gefaßt hatte, ſtellte in den alten Palladien (§. 68), welche mit erhobenem Schilde und gezuͤcktem Speer gebildet wurden, beſonders die vorkaͤmpfende Gottheit (ἀλαλκομένη) dar; doch wurde ihr daneben in die Linke auch Rocken und Spindel zur Bezeichnung friedlicher Geſinnung gegeben, dergleichen Symbole bei Sitzbildern, die nicht Palladien genannt werden, vorherrſchend waren. In der vorge- ſchrittenen altgriechiſchen Kunſt erſcheint ſie im ſteifge- falteten Peplos uͤber dem Chiton, mit großer Aegis, die bisweilen auch als Schild dienend uͤber dem linken Arme lag, oder außer der Bruſt auch den ganzen Ruͤcken be- deckte: dagegen ſie ſpaͤter immer mehr zuſammengezogen wird. Die Umriſſe des Koͤrpers haben in Huͤften und Bruſt wenig von weiblicher Fuͤlle, dagegen ſind die For- men der Beine, Arme, des Ruͤckens ſchon mehr auf maͤnnliche Weiſe ausgebildet als bei der Artemis. Das Geſicht hat bereits die eigenthuͤmliche Form, welche die vervollkommnete Kunſt weiter entwickelte, aber die Zuͤge ſind herb und anmuthlos. 2 3 4 5 6 7 31

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/503>, abgerufen am 22.11.2024.