Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_053.001 7. Was nun die Wirkung der Motive anlangt, so wäre nichts falscher als pmu_053.009 Und zwar können wir bei Einführung der Unlust zwei Arten unterscheiden: pmu_053.018 Betrachten wir zunächst die sukzessive Verteilung, wo heitere und betrübende pmu_053.023 pmu_053.001 7. Was nun die Wirkung der Motive anlangt, so wäre nichts falscher als pmu_053.009 Und zwar können wir bei Einführung der Unlust zwei Arten unterscheiden: pmu_053.018 Betrachten wir zunächst die sukzessive Verteilung, wo heitere und betrübende pmu_053.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0063" n="53"/><lb n="pmu_053.001"/> lebhaften Phantasie empfänglicher sind für alle mystischen Eindrücke, ist <lb n="pmu_053.002"/> gewiß leicht zu verstehen. Schwerer ist schon die große Neigung des Publikums <lb n="pmu_053.003"/> für solche Dinge zu deuten. Mit Erklärungen, die auf Atavismus <lb n="pmu_053.004"/> zurückgehen, dürfte man wohl kaum sehr weit kommen. Auch die in frühester <lb n="pmu_053.005"/> Jugend durch Ammenmärchen usw. erweckten Jnstinkte, die im späteren <lb n="pmu_053.006"/> Leben noch im Unterbewußtsein weiter wirken sollen, können doch <lb n="pmu_053.007"/> nur einen Teil dieser Wirkungen erklären.</p> <lb n="pmu_053.008"/> </div> <div n="3"> <p> 7. Was nun die Wirkung der Motive anlangt, so wäre nichts falscher als <lb n="pmu_053.009"/> anzunehmen, daß sie eitel <hi rendition="#g">Lust</hi> bereiten müßten. Gewiß haben manche <lb n="pmu_053.010"/> Dichter versucht, nur Licht ohne Schatten zu geben, etwa in manchen Jdyllen <lb n="pmu_053.011"/> der Rokokozeit; es sind aber keine Gemälde geworden. Jn Wirklichkeit <lb n="pmu_053.012"/> kommt es nur darauf an, daß die Gesamtwirkung des Stückes überwiegend <lb n="pmu_053.013"/> lustvoll ist, das heißt, daß das Unlustbereitende so verteilt ist, daß es nicht <lb n="pmu_053.014"/> die angenehmen Gefühle erdrückt. Lauter glückliche Geschehnisse wirken <lb n="pmu_053.015"/> fade wie Zuckerwasser. Unlust dagegen, mit Lust gemischt, wirkt steigernd, <lb n="pmu_053.016"/> würzend, prickelnd, je nachdem die Mischung ist.</p> <lb n="pmu_053.017"/> <p> Und zwar können wir bei Einführung der Unlust zwei Arten unterscheiden: <lb n="pmu_053.018"/> eine sukzessive und eine simultane. Jm ersten Falle wechseln Lust <lb n="pmu_053.019"/> und Schmerz miteinander ab, im zweiten Falle bilden sie solche komplexen <lb n="pmu_053.020"/> Gefühle, in denen Lust und Unlust zu sogenannten <hi rendition="#g">Mischgefühlen</hi> <lb n="pmu_053.021"/> verschmelzen.</p> <lb n="pmu_053.022"/> <p> Betrachten wir zunächst die <hi rendition="#g">sukzessive</hi> Verteilung, wo heitere und betrübende <lb n="pmu_053.023"/> Motive abwechseln. Wir haben das in fast allen Werken. Auf <lb n="pmu_053.024"/> naiver Stufe sind düstere und heitere Handlung sorgfältig geschieden, <lb n="pmu_053.025"/> wechseln säuberlich ab, indem z. B. in die Tragödie Harlekinszenen eingelegt <lb n="pmu_053.026"/> werden, oder neben einer tragischen Haupthandlung eine lustige <lb n="pmu_053.027"/> Nebenhandlung herläuft, was sich noch bei Shakespeare kunstvoll verwandt <lb n="pmu_053.028"/> findet. Jndessen nähert sich die sukzessive Verteilung von Lust <lb n="pmu_053.029"/> und Schmerz, je höher das Kunstwerk steht, um so mehr der <hi rendition="#g">simultanen</hi> <lb n="pmu_053.030"/> Form, indem nämlich der Zuschauer sie nicht als getrennt empfindet, <lb n="pmu_053.031"/> sondern sie ihm zu höherer Einheit zusammenklingen wie Disharmonien <lb n="pmu_053.032"/> und Harmonien in einem Musikstück. Je höher das Kunstwerk steht, um <lb n="pmu_053.033"/> so mehr verflechten sich Heiteres und Düsteres, und sie bilden eine solche <lb n="pmu_053.034"/> Einheit wie auf Gemälden, wo das Licht ja erst durch den Schatten zum <lb n="pmu_053.035"/> Leuchten gelangt. So empfindet der wahre Leser die heiteren Szenen <lb n="pmu_053.036"/> bei Shakespeare nicht als etwas von den düsteren Getrenntes, sondern die <lb n="pmu_053.037"/> Narrenwitze im Lear dienen erst dazu, das Schauerliche im Schicksal des <lb n="pmu_053.038"/> Königs in seiner ganzen Größe uns fühlbar zu machen; und andrerseits </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [53/0063]
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lebhaften Phantasie empfänglicher sind für alle mystischen Eindrücke, ist pmu_053.002
gewiß leicht zu verstehen. Schwerer ist schon die große Neigung des Publikums pmu_053.003
für solche Dinge zu deuten. Mit Erklärungen, die auf Atavismus pmu_053.004
zurückgehen, dürfte man wohl kaum sehr weit kommen. Auch die in frühester pmu_053.005
Jugend durch Ammenmärchen usw. erweckten Jnstinkte, die im späteren pmu_053.006
Leben noch im Unterbewußtsein weiter wirken sollen, können doch pmu_053.007
nur einen Teil dieser Wirkungen erklären.
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7. Was nun die Wirkung der Motive anlangt, so wäre nichts falscher als pmu_053.009
anzunehmen, daß sie eitel Lust bereiten müßten. Gewiß haben manche pmu_053.010
Dichter versucht, nur Licht ohne Schatten zu geben, etwa in manchen Jdyllen pmu_053.011
der Rokokozeit; es sind aber keine Gemälde geworden. Jn Wirklichkeit pmu_053.012
kommt es nur darauf an, daß die Gesamtwirkung des Stückes überwiegend pmu_053.013
lustvoll ist, das heißt, daß das Unlustbereitende so verteilt ist, daß es nicht pmu_053.014
die angenehmen Gefühle erdrückt. Lauter glückliche Geschehnisse wirken pmu_053.015
fade wie Zuckerwasser. Unlust dagegen, mit Lust gemischt, wirkt steigernd, pmu_053.016
würzend, prickelnd, je nachdem die Mischung ist.
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Und zwar können wir bei Einführung der Unlust zwei Arten unterscheiden: pmu_053.018
eine sukzessive und eine simultane. Jm ersten Falle wechseln Lust pmu_053.019
und Schmerz miteinander ab, im zweiten Falle bilden sie solche komplexen pmu_053.020
Gefühle, in denen Lust und Unlust zu sogenannten Mischgefühlen pmu_053.021
verschmelzen.
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Betrachten wir zunächst die sukzessive Verteilung, wo heitere und betrübende pmu_053.023
Motive abwechseln. Wir haben das in fast allen Werken. Auf pmu_053.024
naiver Stufe sind düstere und heitere Handlung sorgfältig geschieden, pmu_053.025
wechseln säuberlich ab, indem z. B. in die Tragödie Harlekinszenen eingelegt pmu_053.026
werden, oder neben einer tragischen Haupthandlung eine lustige pmu_053.027
Nebenhandlung herläuft, was sich noch bei Shakespeare kunstvoll verwandt pmu_053.028
findet. Jndessen nähert sich die sukzessive Verteilung von Lust pmu_053.029
und Schmerz, je höher das Kunstwerk steht, um so mehr der simultanen pmu_053.030
Form, indem nämlich der Zuschauer sie nicht als getrennt empfindet, pmu_053.031
sondern sie ihm zu höherer Einheit zusammenklingen wie Disharmonien pmu_053.032
und Harmonien in einem Musikstück. Je höher das Kunstwerk steht, um pmu_053.033
so mehr verflechten sich Heiteres und Düsteres, und sie bilden eine solche pmu_053.034
Einheit wie auf Gemälden, wo das Licht ja erst durch den Schatten zum pmu_053.035
Leuchten gelangt. So empfindet der wahre Leser die heiteren Szenen pmu_053.036
bei Shakespeare nicht als etwas von den düsteren Getrenntes, sondern die pmu_053.037
Narrenwitze im Lear dienen erst dazu, das Schauerliche im Schicksal des pmu_053.038
Königs in seiner ganzen Größe uns fühlbar zu machen; und andrerseits
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