h. die Idee der Nation, allen Interessenten ihres Schicksals vornehmlich klar; sie wird ergreiflich, persönlich, tritt Allen, selbst den Geringsten, nahe, und der Friede, welcher einem solchen Kriege folgt, heißt Friedepar excellence, weil er ein lebendiger, allgemein empfundener, im Gegensatze jenes todten Friedens ist, worin alle großen Kräfte sich vereinzeln und erstarren.
Zum Wesen eines wahren Krieges gehört es, daß zwischen den kriegführenden Staaten et- was gemeinschaftlich sey. Sollen wir über einzelne Dinge mit einander streiten oder Frieden schlie- ßen können, so müssen wir über irgend etwas schon einig seyn. Im Mittelalter war ein sol- ches allen Europäischen Mächten gemeinschaftli- ches Gut die christliche Religion, und die damit ganz nahe verwandte Rittersitte; später, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, war es die Idee des Rechtes, wie sie sich in den gro- ßen ernsthaften Friedensschlüssen jener Zeit aus- drückt. Darauf ist nun ein Zeitalter der Be- griffe gefolgt, und von allen sichtbaren und anerkannten Gemeinschaftlichkeiten zwischen den Europäischen Völkern nichts weiter übrig geblie- ben, als das verdächtige und leicht zu verdrehende Gemeingut der lumieres du siecle, gewisse all- gemeine, nebelhafte Vorstellungen von einer Cul-
h. die Idee der Nation, allen Intereſſenten ihres Schickſals vornehmlich klar; ſie wird ergreiflich, perſoͤnlich, tritt Allen, ſelbſt den Geringſten, nahe, und der Friede, welcher einem ſolchen Kriege folgt, heißt Friedepar excellence, weil er ein lebendiger, allgemein empfundener, im Gegenſatze jenes todten Friedens iſt, worin alle großen Kraͤfte ſich vereinzeln und erſtarren.
Zum Weſen eines wahren Krieges gehoͤrt es, daß zwiſchen den kriegfuͤhrenden Staaten et- was gemeinſchaftlich ſey. Sollen wir uͤber einzelne Dinge mit einander ſtreiten oder Frieden ſchlie- ßen koͤnnen, ſo muͤſſen wir uͤber irgend etwas ſchon einig ſeyn. Im Mittelalter war ein ſol- ches allen Europaͤiſchen Maͤchten gemeinſchaftli- ches Gut die chriſtliche Religion, und die damit ganz nahe verwandte Ritterſitte; ſpaͤter, im ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert, war es die Idee des Rechtes, wie ſie ſich in den gro- ßen ernſthaften Friedensſchluͤſſen jener Zeit aus- druͤckt. Darauf iſt nun ein Zeitalter der Be- griffe gefolgt, und von allen ſichtbaren und anerkannten Gemeinſchaftlichkeiten zwiſchen den Europaͤiſchen Voͤlkern nichts weiter uͤbrig geblie- ben, als das verdaͤchtige und leicht zu verdrehende Gemeingut der lumières du siècle, gewiſſe all- gemeine, nebelhafte Vorſtellungen von einer Cul-
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h. die Idee der Nation, allen Intereſſenten ihres
Schickſals vornehmlich klar; ſie wird ergreiflich,
perſoͤnlich, tritt Allen, ſelbſt den Geringſten,
nahe, und der Friede, welcher einem ſolchen
Kriege folgt, heißt Friede par excellence,
weil er ein lebendiger, allgemein empfundener,
im Gegenſatze jenes todten Friedens iſt, worin
alle großen Kraͤfte ſich vereinzeln und erſtarren.
Zum Weſen eines wahren Krieges gehoͤrt
es, daß zwiſchen den kriegfuͤhrenden Staaten et-
was gemeinſchaftlich ſey. Sollen wir uͤber einzelne
Dinge mit einander ſtreiten oder Frieden ſchlie-
ßen koͤnnen, ſo muͤſſen wir uͤber irgend etwas
ſchon einig ſeyn. Im Mittelalter war ein ſol-
ches allen Europaͤiſchen Maͤchten gemeinſchaftli-
ches Gut die chriſtliche Religion, und die damit
ganz nahe verwandte Ritterſitte; ſpaͤter, im
ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert, war es
die Idee des Rechtes, wie ſie ſich in den gro-
ßen ernſthaften Friedensſchluͤſſen jener Zeit aus-
druͤckt. Darauf iſt nun ein Zeitalter der Be-
griffe gefolgt, und von allen ſichtbaren und
anerkannten Gemeinſchaftlichkeiten zwiſchen den
Europaͤiſchen Voͤlkern nichts weiter uͤbrig geblie-
ben, als das verdaͤchtige und leicht zu verdrehende
Gemeingut der lumières du siècle, gewiſſe all-
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/148>, abgerufen am 22.11.2024.
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