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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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stehen in unaufhörlicher Wechselwirkung. Je
freier das Volk, d. h. je freier die Totalität der
Individuen, aus denen der Staat besteht, nicht
bloß die Summe der Köpfe: um so mächtiger
das Gesetz, oder der Suverän. Die Macht des
Suveräns und die Freiheit des Volkes sind nicht,
wie man gewöhnlich glaubt, Begriffe, die ein-
ander ausschließen, sondern es sind beides Ideen,
die, wenn man sie in gehöriger Bewegung, d.
h. durch den Lauf ganzer Jahrhunderte, denkt,
einander unaufhörlich bedingen, so daß, wie
ich oben gezeigt habe, jede Erweiterung der Frei-
heit kräftigeren Streit entzündet, aus welchem
Streite das Gesetz reiner und mächtiger ausge-
boren wird, also die wahre Suveränetät. Das
ist ja schon im gemeinen Leben der große Vor-
theil jedes Dritten bei einer lebhaften Privat-
Discussion; wenn ein recht gleichmäßiger und
geschlossener Streit zwischen zwei Partheien ge-
führt wird, so wird es dem unbefangenen Drit-
ten sehr leicht, den Ausschlag zu geben, 1) weil
gleichstehende Wagschalen eines sehr kleinen Ge-
wichtes bedürfen, um aus dem Gleichgewichte
gebracht zu werden, 2) weil der recht geschlossene
Streit, in welchem sich die Kraft der Kraft ge-
genüber fühlt, am allergeneigtesten zum Frieden
macht, und weil nur zwischen der Macht und

Müllers Elemente. I. [17]

ſtehen in unaufhoͤrlicher Wechſelwirkung. Je
freier das Volk, d. h. je freier die Totalitaͤt der
Individuen, aus denen der Staat beſteht, nicht
bloß die Summe der Koͤpfe: um ſo maͤchtiger
das Geſetz, oder der Suveraͤn. Die Macht des
Suveraͤns und die Freiheit des Volkes ſind nicht,
wie man gewoͤhnlich glaubt, Begriffe, die ein-
ander ausſchließen, ſondern es ſind beides Ideen,
die, wenn man ſie in gehoͤriger Bewegung, d.
h. durch den Lauf ganzer Jahrhunderte, denkt,
einander unaufhoͤrlich bedingen, ſo daß, wie
ich oben gezeigt habe, jede Erweiterung der Frei-
heit kraͤftigeren Streit entzuͤndet, aus welchem
Streite das Geſetz reiner und maͤchtiger ausge-
boren wird, alſo die wahre Suveraͤnetaͤt. Das
iſt ja ſchon im gemeinen Leben der große Vor-
theil jedes Dritten bei einer lebhaften Privat-
Discuſſion; wenn ein recht gleichmaͤßiger und
geſchloſſener Streit zwiſchen zwei Partheien ge-
fuͤhrt wird, ſo wird es dem unbefangenen Drit-
ten ſehr leicht, den Ausſchlag zu geben, 1) weil
gleichſtehende Wagſchalen eines ſehr kleinen Ge-
wichtes beduͤrfen, um aus dem Gleichgewichte
gebracht zu werden, 2) weil der recht geſchloſſene
Streit, in welchem ſich die Kraft der Kraft ge-
genuͤber fuͤhlt, am allergeneigteſten zum Frieden
macht, und weil nur zwiſchen der Macht und

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[257/0291] ſtehen in unaufhoͤrlicher Wechſelwirkung. Je freier das Volk, d. h. je freier die Totalitaͤt der Individuen, aus denen der Staat beſteht, nicht bloß die Summe der Koͤpfe: um ſo maͤchtiger das Geſetz, oder der Suveraͤn. Die Macht des Suveraͤns und die Freiheit des Volkes ſind nicht, wie man gewoͤhnlich glaubt, Begriffe, die ein- ander ausſchließen, ſondern es ſind beides Ideen, die, wenn man ſie in gehoͤriger Bewegung, d. h. durch den Lauf ganzer Jahrhunderte, denkt, einander unaufhoͤrlich bedingen, ſo daß, wie ich oben gezeigt habe, jede Erweiterung der Frei- heit kraͤftigeren Streit entzuͤndet, aus welchem Streite das Geſetz reiner und maͤchtiger ausge- boren wird, alſo die wahre Suveraͤnetaͤt. Das iſt ja ſchon im gemeinen Leben der große Vor- theil jedes Dritten bei einer lebhaften Privat- Discuſſion; wenn ein recht gleichmaͤßiger und geſchloſſener Streit zwiſchen zwei Partheien ge- fuͤhrt wird, ſo wird es dem unbefangenen Drit- ten ſehr leicht, den Ausſchlag zu geben, 1) weil gleichſtehende Wagſchalen eines ſehr kleinen Ge- wichtes beduͤrfen, um aus dem Gleichgewichte gebracht zu werden, 2) weil der recht geſchloſſene Streit, in welchem ſich die Kraft der Kraft ge- genuͤber fuͤhlt, am allergeneigteſten zum Frieden macht, und weil nur zwiſchen der Macht und Müllers Elemente. I. [17]

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/291>, abgerufen am 22.11.2024.