Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

erweitert; wenn er sich bewegt und wächst, wie
der Gegenstand wächst und sich bewegt: dann
nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff
von der Sache, sondern die Idee der Sache,
des Staates, des Lebens. Unsre gewöhnlichen
Staats-Theorieen sind Aufhäufungen von Be-
griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak-
tisch: sie können mit dem Leben nicht Schritt
halten, weil sie auf dem Wahne beruhen, der
Staat lasse sich vollständig und Ein- für allemal
begreifen; sie stehen still, während der Staat
in's Unendliche fortschreitet. -- Es gab z. B.
in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts
in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute,
welche sich bemüheten, Begriffe von der Ge-
treideausfuhr zu geben; alle diese Begriffe und
darauf gebauete Vorschläge waren aber unbrauch-
bar und nicht auszuführen. Da erschien die
genialische, und doch so elegante und zierliche,
Behandlung dieses berühmten Problems vom
Abbe Gagliani; und ein plötzliches Verstum-
men der alten, staatswirthschaftlichen Tonange-
ber, und der Beifall von Frankreich und ganz
Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte.
Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs-
regel, aber die Idee des Getreidehandels; nichts
Einzelnes davon konnte angewendet werden:

erweitert; wenn er ſich bewegt und waͤchſt, wie
der Gegenſtand waͤchſt und ſich bewegt: dann
nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff
von der Sache, ſondern die Idee der Sache,
des Staates, des Lebens. Unſre gewoͤhnlichen
Staats-Theorieen ſind Aufhaͤufungen von Be-
griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak-
tiſch: ſie koͤnnen mit dem Leben nicht Schritt
halten, weil ſie auf dem Wahne beruhen, der
Staat laſſe ſich vollſtaͤndig und Ein- fuͤr allemal
begreifen; ſie ſtehen ſtill, waͤhrend der Staat
in’s Unendliche fortſchreitet. — Es gab z. B.
in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts
in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute,
welche ſich bemuͤheten, Begriffe von der Ge-
treideausfuhr zu geben; alle dieſe Begriffe und
darauf gebauete Vorſchlaͤge waren aber unbrauch-
bar und nicht auszufuͤhren. Da erſchien die
genialiſche, und doch ſo elegante und zierliche,
Behandlung dieſes beruͤhmten Problems vom
Abbe Gagliani; und ein ploͤtzliches Verſtum-
men der alten, ſtaatswirthſchaftlichen Tonange-
ber, und der Beifall von Frankreich und ganz
Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte.
Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs-
regel, aber die Idee des Getreidehandels; nichts
Einzelnes davon konnte angewendet werden:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0062" n="28"/>
erweitert; wenn er &#x017F;ich bewegt und wa&#x0364;ch&#x017F;t, wie<lb/>
der Gegen&#x017F;tand wa&#x0364;ch&#x017F;t und &#x017F;ich bewegt: dann<lb/>
nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff<lb/>
von der Sache, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">die Idee</hi> der Sache,<lb/>
des Staates, des Lebens. Un&#x017F;re gewo&#x0364;hnlichen<lb/>
Staats-Theorieen &#x017F;ind Aufha&#x0364;ufungen von Be-<lb/>
griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak-<lb/>
ti&#x017F;ch: &#x017F;ie ko&#x0364;nnen mit dem Leben nicht Schritt<lb/>
halten, weil &#x017F;ie auf dem Wahne beruhen, der<lb/>
Staat la&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich voll&#x017F;ta&#x0364;ndig und Ein- fu&#x0364;r allemal<lb/>
begreifen; &#x017F;ie &#x017F;tehen &#x017F;till, wa&#x0364;hrend der Staat<lb/>
in&#x2019;s Unendliche fort&#x017F;chreitet. &#x2014; Es gab z. B.<lb/>
in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts<lb/>
in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute,<lb/>
welche &#x017F;ich bemu&#x0364;heten, <hi rendition="#g">Begriffe</hi> von der Ge-<lb/>
treideausfuhr zu geben; alle die&#x017F;e Begriffe und<lb/>
darauf gebauete Vor&#x017F;chla&#x0364;ge waren aber unbrauch-<lb/>
bar und nicht auszufu&#x0364;hren. Da er&#x017F;chien die<lb/>
geniali&#x017F;che, und doch &#x017F;o elegante und zierliche,<lb/>
Behandlung die&#x017F;es beru&#x0364;hmten Problems vom<lb/>
Abbe <hi rendition="#g">Gagliani</hi>; und ein plo&#x0364;tzliches Ver&#x017F;tum-<lb/>
men der alten, &#x017F;taatswirth&#x017F;chaftlichen Tonange-<lb/>
ber, und der Beifall von Frankreich und ganz<lb/>
Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte.<lb/>
Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs-<lb/>
regel, aber die <hi rendition="#g">Idee</hi> des Getreidehandels; nichts<lb/>
Einzelnes davon konnte angewendet werden:<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0062] erweitert; wenn er ſich bewegt und waͤchſt, wie der Gegenſtand waͤchſt und ſich bewegt: dann nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff von der Sache, ſondern die Idee der Sache, des Staates, des Lebens. Unſre gewoͤhnlichen Staats-Theorieen ſind Aufhaͤufungen von Be- griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak- tiſch: ſie koͤnnen mit dem Leben nicht Schritt halten, weil ſie auf dem Wahne beruhen, der Staat laſſe ſich vollſtaͤndig und Ein- fuͤr allemal begreifen; ſie ſtehen ſtill, waͤhrend der Staat in’s Unendliche fortſchreitet. — Es gab z. B. in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute, welche ſich bemuͤheten, Begriffe von der Ge- treideausfuhr zu geben; alle dieſe Begriffe und darauf gebauete Vorſchlaͤge waren aber unbrauch- bar und nicht auszufuͤhren. Da erſchien die genialiſche, und doch ſo elegante und zierliche, Behandlung dieſes beruͤhmten Problems vom Abbe Gagliani; und ein ploͤtzliches Verſtum- men der alten, ſtaatswirthſchaftlichen Tonange- ber, und der Beifall von Frankreich und ganz Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte. Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs- regel, aber die Idee des Getreidehandels; nichts Einzelnes davon konnte angewendet werden:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/62
Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/62>, abgerufen am 22.11.2024.