Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

dürfen und doch einander so unendlich wider-
streben, in den beiden Geschlechtern; da sie den
Gedanken "Mensch" in die Mitte zwischen
Mann und Weib, als ein unsichtbares Drittes,
gelegt, und uns dergestalt einen abgeschlossenen,
festen Begriff vom Menschen versagt hat; da
sie auf diese Weise uns genöthigt, den Men-
schen, in beständigen Wechselblicken auf zwei
ganz verschiedene Menschen, also im Fluge, in
beständiger Bewegung, also nicht als Begriff,
sondern als Idee, aufzufassen --: wo ist und
bleibt denn nun die Zeit, wo es Menschen gab,
und kein Gefühl ihres wahren Verhältnisses, d.
h. kein Recht?

Was vom zweiten Menschen gilt, gilt auch
vom dritten, der nichts andres ist als ein zwei-
ter Zweiter, und so bis in's Unendliche fort.
Warum nun in die Weltgeschichte einen einge-
bildeten Strich an einer unbestimmten Stelle
hin zeichnen, und sagen: was jenseits liegt, ist
kein Staat, das ist Naturzustand; was diesseits
liegt, ist ein Staat! -- Aber weil mit ihrem
todten Begriffe "Staat" zugleich tausend Un-
wesentlichkeiten in die Wissenschaft kommen; weil
der Begriff sich nicht schütteln, die Unwesent-
lichkeiten nicht von sich abstreifen kann --: so
entsteht der Wahn, Rechtszustand und Staat

duͤrfen und doch einander ſo unendlich wider-
ſtreben, in den beiden Geſchlechtern; da ſie den
Gedanken „Menſch” in die Mitte zwiſchen
Mann und Weib, als ein unſichtbares Drittes,
gelegt, und uns dergeſtalt einen abgeſchloſſenen,
feſten Begriff vom Menſchen verſagt hat; da
ſie auf dieſe Weiſe uns genoͤthigt, den Men-
ſchen, in beſtaͤndigen Wechſelblicken auf zwei
ganz verſchiedene Menſchen, alſo im Fluge, in
beſtaͤndiger Bewegung, alſo nicht als Begriff,
ſondern als Idee, aufzufaſſen —: wo iſt und
bleibt denn nun die Zeit, wo es Menſchen gab,
und kein Gefuͤhl ihres wahren Verhaͤltniſſes, d.
h. kein Recht?

Was vom zweiten Menſchen gilt, gilt auch
vom dritten, der nichts andres iſt als ein zwei-
ter Zweiter, und ſo bis in’s Unendliche fort.
Warum nun in die Weltgeſchichte einen einge-
bildeten Strich an einer unbeſtimmten Stelle
hin zeichnen, und ſagen: was jenſeits liegt, iſt
kein Staat, das iſt Naturzuſtand; was diesſeits
liegt, iſt ein Staat! — Aber weil mit ihrem
todten Begriffe „Staat” zugleich tauſend Un-
weſentlichkeiten in die Wiſſenſchaft kommen; weil
der Begriff ſich nicht ſchuͤtteln, die Unweſent-
lichkeiten nicht von ſich abſtreifen kann —: ſo
entſteht der Wahn, Rechtszuſtand und Staat

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0094" n="60"/>
du&#x0364;rfen und doch einander &#x017F;o unendlich wider-<lb/>
&#x017F;treben, in den beiden Ge&#x017F;chlechtern; da &#x017F;ie den<lb/>
Gedanken &#x201E;<hi rendition="#g">Men&#x017F;ch</hi>&#x201D; in die Mitte zwi&#x017F;chen<lb/>
Mann und Weib, als ein un&#x017F;ichtbares Drittes,<lb/>
gelegt, und uns derge&#x017F;talt einen abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen,<lb/>
fe&#x017F;ten Begriff vom Men&#x017F;chen ver&#x017F;agt hat; da<lb/>
&#x017F;ie auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e uns geno&#x0364;thigt, den Men-<lb/>
&#x017F;chen, in be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Wech&#x017F;elblicken auf zwei<lb/>
ganz ver&#x017F;chiedene Men&#x017F;chen, al&#x017F;o im Fluge, in<lb/>
be&#x017F;ta&#x0364;ndiger Bewegung, al&#x017F;o nicht als Begriff,<lb/>
&#x017F;ondern als Idee, aufzufa&#x017F;&#x017F;en &#x2014;: wo i&#x017F;t und<lb/>
bleibt denn nun die Zeit, wo es Men&#x017F;chen gab,<lb/>
und kein Gefu&#x0364;hl ihres wahren Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;es, d.<lb/>
h. kein Recht?</p><lb/>
            <p>Was vom zweiten Men&#x017F;chen gilt, gilt auch<lb/>
vom dritten, der nichts andres i&#x017F;t als ein zwei-<lb/>
ter Zweiter, und &#x017F;o bis in&#x2019;s Unendliche fort.<lb/>
Warum nun in die Weltge&#x017F;chichte einen einge-<lb/>
bildeten Strich an einer unbe&#x017F;timmten Stelle<lb/>
hin zeichnen, und &#x017F;agen: was jen&#x017F;eits liegt, i&#x017F;t<lb/>
kein Staat, das i&#x017F;t Naturzu&#x017F;tand; was dies&#x017F;eits<lb/>
liegt, i&#x017F;t ein Staat! &#x2014; Aber weil mit ihrem<lb/>
todten Begriffe &#x201E;<hi rendition="#g">Staat</hi>&#x201D; zugleich tau&#x017F;end Un-<lb/>
we&#x017F;entlichkeiten in die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft kommen; weil<lb/>
der Begriff &#x017F;ich nicht &#x017F;chu&#x0364;tteln, die Unwe&#x017F;ent-<lb/>
lichkeiten nicht von &#x017F;ich ab&#x017F;treifen kann &#x2014;: &#x017F;o<lb/>
ent&#x017F;teht der Wahn, Rechtszu&#x017F;tand und Staat<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0094] duͤrfen und doch einander ſo unendlich wider- ſtreben, in den beiden Geſchlechtern; da ſie den Gedanken „Menſch” in die Mitte zwiſchen Mann und Weib, als ein unſichtbares Drittes, gelegt, und uns dergeſtalt einen abgeſchloſſenen, feſten Begriff vom Menſchen verſagt hat; da ſie auf dieſe Weiſe uns genoͤthigt, den Men- ſchen, in beſtaͤndigen Wechſelblicken auf zwei ganz verſchiedene Menſchen, alſo im Fluge, in beſtaͤndiger Bewegung, alſo nicht als Begriff, ſondern als Idee, aufzufaſſen —: wo iſt und bleibt denn nun die Zeit, wo es Menſchen gab, und kein Gefuͤhl ihres wahren Verhaͤltniſſes, d. h. kein Recht? Was vom zweiten Menſchen gilt, gilt auch vom dritten, der nichts andres iſt als ein zwei- ter Zweiter, und ſo bis in’s Unendliche fort. Warum nun in die Weltgeſchichte einen einge- bildeten Strich an einer unbeſtimmten Stelle hin zeichnen, und ſagen: was jenſeits liegt, iſt kein Staat, das iſt Naturzuſtand; was diesſeits liegt, iſt ein Staat! — Aber weil mit ihrem todten Begriffe „Staat” zugleich tauſend Un- weſentlichkeiten in die Wiſſenſchaft kommen; weil der Begriff ſich nicht ſchuͤtteln, die Unweſent- lichkeiten nicht von ſich abſtreifen kann —: ſo entſteht der Wahn, Rechtszuſtand und Staat

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/94
Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/94>, abgerufen am 22.11.2024.