Noch einer meiner alten Einwürfe fällt mir ein, fuhr er fort. Jch habe mir nie vorstellen können, daß Gott ein so verächtliches Volk, als die Juden, zu seinem besonders geliebten Volke sollte gewählt haben. Die Ur- sache, antwortete ich, warum Gott ein Volk vor den übrigen durch seine besondere Theilnehmung daran gleich- sam auszeichnete, war unter andern diese, seine wahre Erkenntniß bis auf die Zeit, da der Erlöser der Welt kommen sollte, durch dasselbe zu erhalten, daß sie nicht ganz verlohren gienge. Was sollte er zu dieser Absicht für ein Volk wählen? Natürlich war es ja, daß er die Juden dazu bestimme, theils weil sie Nachkommen sei- nes Freundes Abrahams waren, von dem sie die natür- liche Religion, deren Depositairs sie gleichsam werden sollten, durch eine beständige Ueberlieferung erhalten hatten, theils weil eben aus den Nachkommen Abra- hams, und also aus ihrem Mittel der Erlöser der Welt hervorgehen sollte. Nun sind zwar die Juden itzt und seit langer Zeit eine verächtliche Nation. Aber was bey den Menschen verachtet wird, ist es deswegen nicht auch bey Gott. Es sind auch Zeiten gewesen, da die Juden ein sehr respectables und tapfres Volk waren. Dieß erläuterte der Graf selbst durch einige Beyspiele ihrer Tapferkeit gegen ihre ehemaligen Unterdrücker. Man kann freylich nicht, sagte er, von ihrer gegenwärtigen Verächtlichkeit zurückschließen. Und überhaupt ist die Sache sehr relativ. So verachtet der Engelländer den Franzosen, und der Franzose hält wieder seine Nation für die respectabelste auf dem Erdboden.
Neun-
Noch einer meiner alten Einwuͤrfe faͤllt mir ein, fuhr er fort. Jch habe mir nie vorſtellen koͤnnen, daß Gott ein ſo veraͤchtliches Volk, als die Juden, zu ſeinem beſonders geliebten Volke ſollte gewaͤhlt haben. Die Ur- ſache, antwortete ich, warum Gott ein Volk vor den uͤbrigen durch ſeine beſondere Theilnehmung daran gleich- ſam auszeichnete, war unter andern dieſe, ſeine wahre Erkenntniß bis auf die Zeit, da der Erloͤſer der Welt kommen ſollte, durch daſſelbe zu erhalten, daß ſie nicht ganz verlohren gienge. Was ſollte er zu dieſer Abſicht fuͤr ein Volk waͤhlen? Natuͤrlich war es ja, daß er die Juden dazu beſtimme, theils weil ſie Nachkommen ſei- nes Freundes Abrahams waren, von dem ſie die natuͤr- liche Religion, deren Depoſitairs ſie gleichſam werden ſollten, durch eine beſtaͤndige Ueberlieferung erhalten hatten, theils weil eben aus den Nachkommen Abra- hams, und alſo aus ihrem Mittel der Erloͤſer der Welt hervorgehen ſollte. Nun ſind zwar die Juden itzt und ſeit langer Zeit eine veraͤchtliche Nation. Aber was bey den Menſchen verachtet wird, iſt es deswegen nicht auch bey Gott. Es ſind auch Zeiten geweſen, da die Juden ein ſehr reſpectables und tapfres Volk waren. Dieß erlaͤuterte der Graf ſelbſt durch einige Beyſpiele ihrer Tapferkeit gegen ihre ehemaligen Unterdruͤcker. Man kann freylich nicht, ſagte er, von ihrer gegenwaͤrtigen Veraͤchtlichkeit zuruͤckſchließen. Und uͤberhaupt iſt die Sache ſehr relativ. So verachtet der Engellaͤnder den Franzoſen, und der Franzoſe haͤlt wieder ſeine Nation fuͤr die reſpectabelſte auf dem Erdboden.
Neun-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0171"n="159"/><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Noch einer meiner alten Einwuͤrfe faͤllt mir ein,<lb/>
fuhr er fort. Jch habe mir nie vorſtellen koͤnnen, daß<lb/>
Gott ein ſo veraͤchtliches Volk, als die Juden, zu ſeinem<lb/>
beſonders geliebten Volke ſollte gewaͤhlt haben. Die Ur-<lb/>ſache, antwortete ich, warum Gott ein Volk vor den<lb/>
uͤbrigen durch ſeine beſondere Theilnehmung daran gleich-<lb/>ſam auszeichnete, war unter andern dieſe, ſeine wahre<lb/>
Erkenntniß bis auf die Zeit, da der Erloͤſer der Welt<lb/>
kommen ſollte, durch daſſelbe zu erhalten, daß ſie nicht<lb/>
ganz verlohren gienge. Was ſollte er zu dieſer Abſicht<lb/>
fuͤr ein Volk waͤhlen? Natuͤrlich war es ja, daß er die<lb/>
Juden dazu beſtimme, theils weil ſie Nachkommen ſei-<lb/>
nes Freundes Abrahams waren, von dem ſie die natuͤr-<lb/>
liche Religion, deren Depoſitairs ſie gleichſam werden<lb/>ſollten, durch eine beſtaͤndige Ueberlieferung erhalten<lb/>
hatten, theils weil eben aus den Nachkommen Abra-<lb/>
hams, und alſo aus ihrem Mittel der Erloͤſer der Welt<lb/>
hervorgehen ſollte. Nun ſind zwar die Juden itzt und<lb/>ſeit langer Zeit eine veraͤchtliche Nation. Aber was bey<lb/>
den Menſchen verachtet wird, iſt es deswegen nicht auch<lb/>
bey Gott. Es ſind auch Zeiten geweſen, da die Juden<lb/>
ein ſehr reſpectables und tapfres Volk waren. Dieß<lb/>
erlaͤuterte der Graf ſelbſt durch einige Beyſpiele ihrer<lb/>
Tapferkeit gegen ihre ehemaligen Unterdruͤcker. Man<lb/>
kann freylich nicht, ſagte er, von ihrer gegenwaͤrtigen<lb/>
Veraͤchtlichkeit zuruͤckſchließen. Und uͤberhaupt iſt die<lb/>
Sache ſehr relativ. So verachtet der Engellaͤnder den<lb/>
Franzoſen, und der Franzoſe haͤlt wieder ſeine Nation<lb/>
fuͤr die reſpectabelſte auf dem Erdboden.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Neun-</fw><lb/></body></text></TEI>
[159/0171]
Noch einer meiner alten Einwuͤrfe faͤllt mir ein,
fuhr er fort. Jch habe mir nie vorſtellen koͤnnen, daß
Gott ein ſo veraͤchtliches Volk, als die Juden, zu ſeinem
beſonders geliebten Volke ſollte gewaͤhlt haben. Die Ur-
ſache, antwortete ich, warum Gott ein Volk vor den
uͤbrigen durch ſeine beſondere Theilnehmung daran gleich-
ſam auszeichnete, war unter andern dieſe, ſeine wahre
Erkenntniß bis auf die Zeit, da der Erloͤſer der Welt
kommen ſollte, durch daſſelbe zu erhalten, daß ſie nicht
ganz verlohren gienge. Was ſollte er zu dieſer Abſicht
fuͤr ein Volk waͤhlen? Natuͤrlich war es ja, daß er die
Juden dazu beſtimme, theils weil ſie Nachkommen ſei-
nes Freundes Abrahams waren, von dem ſie die natuͤr-
liche Religion, deren Depoſitairs ſie gleichſam werden
ſollten, durch eine beſtaͤndige Ueberlieferung erhalten
hatten, theils weil eben aus den Nachkommen Abra-
hams, und alſo aus ihrem Mittel der Erloͤſer der Welt
hervorgehen ſollte. Nun ſind zwar die Juden itzt und
ſeit langer Zeit eine veraͤchtliche Nation. Aber was bey
den Menſchen verachtet wird, iſt es deswegen nicht auch
bey Gott. Es ſind auch Zeiten geweſen, da die Juden
ein ſehr reſpectables und tapfres Volk waren. Dieß
erlaͤuterte der Graf ſelbſt durch einige Beyſpiele ihrer
Tapferkeit gegen ihre ehemaligen Unterdruͤcker. Man
kann freylich nicht, ſagte er, von ihrer gegenwaͤrtigen
Veraͤchtlichkeit zuruͤckſchließen. Und uͤberhaupt iſt die
Sache ſehr relativ. So verachtet der Engellaͤnder den
Franzoſen, und der Franzoſe haͤlt wieder ſeine Nation
fuͤr die reſpectabelſte auf dem Erdboden.
Neun-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/171>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.