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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

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Die Enthaltsamkeit sey eine Tugend des Vorurtheils, und
ganze Nationen bestünden, und hätten bestanden, ohne
diese Tugend zu kennen noch auszuüben.

Es gereicht zu meiner wahren Demüthigung, mein
wehrtester Freund, daß ich Jhnen Scheingründe wieder-
hohle, die mir itzt höchstabgeschmackt sind, die Sie aber
bey allen denjenigen mehr oder weniger werden gefun-
den haben, die nicht ganz gedankenlos handeln, und bey
der unregelmäßigsten Lebensart in dem Verstande Mittel
zu ihrer Beruhigung suchen. Wie leicht können nicht auf
diese Art alle unsre Begierden bemäntelt und gerechtfertigt
werden! Der Ehrgeizige siehet in seinen Unternehmungen
Liebe zum Vaterland und eine edle Ehrbegirrde; der Einge-
bildete edlen Stolz auf seine Verdienste und die Gerechtig-
keit, so er sich selbst schuldig ist; der Verläumder Wahr-
heitsliebe und unschuldigen Scherz. u. s. w.

Diesen Jrrthümern hoffte ich durch eine strenge Prü-
fung und Untersuchung meiner selbst, und der Folgen, so
meine Handlungen haben könnten und haben würden, aus-
zuweichen. Bin ich darin glücklich gewesen, und ist es mög-
lich, wenn ich auch nur für die unmittelbaren Folgen der-
selben einstehen sollte? Betrog ich mich nicht selbst, wenn
ich mich mit dem lebhaften Vorsatz, so viel Gutes zu thun als
ich konnte, und der Ueberzeugung, daß ich es, so viel die
Umstände, in denen ich mich befand, thäte, zu befriedigen
glaubte? War es Betäubung, Unempfindlichkeit, Affec-
tation, wenn ich in mir selbst Ruhe, Standhaftigkeit und
Gelassenheit bey meinem itzigen Unglück zu finden hoffte?
Untersuchte ich die Ursachen desselben, so blieb ich bey den
politischen stehen, und wie viel konnte ich nicht in den Zu-
fälligen und der Natur meiner Situation zu meiner Ent-
schuldigung entdecken? Meine moralischen Gesinnungen
sah ich nur von ferne: und wie konnte ich sie verdammen,
wenn ich mich nicht auf einmahl aller Beruhigung berauben
wollte? Was ich von der Zukunft hoffte, habe ich vorhin

gesagt,



Die Enthaltſamkeit ſey eine Tugend des Vorurtheils, und
ganze Nationen beſtuͤnden, und haͤtten beſtanden, ohne
dieſe Tugend zu kennen noch auszuuͤben.

Es gereicht zu meiner wahren Demuͤthigung, mein
wehrteſter Freund, daß ich Jhnen Scheingruͤnde wieder-
hohle, die mir itzt hoͤchſtabgeſchmackt ſind, die Sie aber
bey allen denjenigen mehr oder weniger werden gefun-
den haben, die nicht ganz gedankenlos handeln, und bey
der unregelmaͤßigſten Lebensart in dem Verſtande Mittel
zu ihrer Beruhigung ſuchen. Wie leicht koͤnnen nicht auf
dieſe Art alle unſre Begierden bemaͤntelt und gerechtfertigt
werden! Der Ehrgeizige ſiehet in ſeinen Unternehmungen
Liebe zum Vaterland und eine edle Ehrbegirrde; der Einge-
bildete edlen Stolz auf ſeine Verdienſte und die Gerechtig-
keit, ſo er ſich ſelbſt ſchuldig iſt; der Verlaͤumder Wahr-
heitsliebe und unſchuldigen Scherz. u. ſ. w.

Dieſen Jrrthuͤmern hoffte ich durch eine ſtrenge Pruͤ-
fung und Unterſuchung meiner ſelbſt, und der Folgen, ſo
meine Handlungen haben koͤnnten und haben wuͤrden, aus-
zuweichen. Bin ich darin gluͤcklich geweſen, und iſt es moͤg-
lich, wenn ich auch nur fuͤr die unmittelbaren Folgen der-
ſelben einſtehen ſollte? Betrog ich mich nicht ſelbſt, wenn
ich mich mit dem lebhaften Vorſatz, ſo viel Gutes zu thun als
ich konnte, und der Ueberzeugung, daß ich es, ſo viel die
Umſtaͤnde, in denen ich mich befand, thaͤte, zu befriedigen
glaubte? War es Betaͤubung, Unempfindlichkeit, Affec-
tation, wenn ich in mir ſelbſt Ruhe, Standhaftigkeit und
Gelaſſenheit bey meinem itzigen Ungluͤck zu finden hoffte?
Unterſuchte ich die Urſachen deſſelben, ſo blieb ich bey den
politiſchen ſtehen, und wie viel konnte ich nicht in den Zu-
faͤlligen und der Natur meiner Situation zu meiner Ent-
ſchuldigung entdecken? Meine moraliſchen Geſinnungen
ſah ich nur von ferne: und wie konnte ich ſie verdammen,
wenn ich mich nicht auf einmahl aller Beruhigung berauben
wollte? Was ich von der Zukunft hoffte, habe ich vorhin

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[286/0298] Die Enthaltſamkeit ſey eine Tugend des Vorurtheils, und ganze Nationen beſtuͤnden, und haͤtten beſtanden, ohne dieſe Tugend zu kennen noch auszuuͤben. Es gereicht zu meiner wahren Demuͤthigung, mein wehrteſter Freund, daß ich Jhnen Scheingruͤnde wieder- hohle, die mir itzt hoͤchſtabgeſchmackt ſind, die Sie aber bey allen denjenigen mehr oder weniger werden gefun- den haben, die nicht ganz gedankenlos handeln, und bey der unregelmaͤßigſten Lebensart in dem Verſtande Mittel zu ihrer Beruhigung ſuchen. Wie leicht koͤnnen nicht auf dieſe Art alle unſre Begierden bemaͤntelt und gerechtfertigt werden! Der Ehrgeizige ſiehet in ſeinen Unternehmungen Liebe zum Vaterland und eine edle Ehrbegirrde; der Einge- bildete edlen Stolz auf ſeine Verdienſte und die Gerechtig- keit, ſo er ſich ſelbſt ſchuldig iſt; der Verlaͤumder Wahr- heitsliebe und unſchuldigen Scherz. u. ſ. w. Dieſen Jrrthuͤmern hoffte ich durch eine ſtrenge Pruͤ- fung und Unterſuchung meiner ſelbſt, und der Folgen, ſo meine Handlungen haben koͤnnten und haben wuͤrden, aus- zuweichen. Bin ich darin gluͤcklich geweſen, und iſt es moͤg- lich, wenn ich auch nur fuͤr die unmittelbaren Folgen der- ſelben einſtehen ſollte? Betrog ich mich nicht ſelbſt, wenn ich mich mit dem lebhaften Vorſatz, ſo viel Gutes zu thun als ich konnte, und der Ueberzeugung, daß ich es, ſo viel die Umſtaͤnde, in denen ich mich befand, thaͤte, zu befriedigen glaubte? War es Betaͤubung, Unempfindlichkeit, Affec- tation, wenn ich in mir ſelbſt Ruhe, Standhaftigkeit und Gelaſſenheit bey meinem itzigen Ungluͤck zu finden hoffte? Unterſuchte ich die Urſachen deſſelben, ſo blieb ich bey den politiſchen ſtehen, und wie viel konnte ich nicht in den Zu- faͤlligen und der Natur meiner Situation zu meiner Ent- ſchuldigung entdecken? Meine moraliſchen Geſinnungen ſah ich nur von ferne: und wie konnte ich ſie verdammen, wenn ich mich nicht auf einmahl aller Beruhigung berauben wollte? Was ich von der Zukunft hoffte, habe ich vorhin geſagt,

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Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/298>, abgerufen am 21.11.2024.