Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite


Fünfte Unterredung, den 10ten März.

Der Graf las bey meiner Ankunft in Gellerts morali-
schen Vorlesungen, und wußte die Vortrefflichkeit
dieses Buches nicht genung zu rühmen. Hätte ich nur
noch vor einem Jahre, sagte er, solche Bücher in der
Entfernung von Zerstreuungen gelesen, in der ich itzt
lebe, so würde ich gewiß ein ganz anderer Mensch ge-
worden seyn. Aber ich lebte im Traum! -- Doch wo
findet man auch solche Christen! Jch glaube, antwortete
ich, Gellert war ein Christ von dieser Art. Jch gestehe
Jhnen gerne, solche Muster sind sehr selten. Aber es
ist auch nicht möglich, daß sich alle gleich hoch erheben
können. Dieß Buch zeigt die Vollkommenheit, nach
welcher billig alle trachten sollten. Wer allen Fleiß an-
wendet gut und rechtschaffen zu werden, der wird auch gut
und rechtschaffen, wenn er gleich das Muster, nach wel-
chem er sich bildet, nicht ganz erreichet. Thun Sie auch
nur in dieser Absicht, was Sie noch thun können, so
werden Sie bald merken, daß Sie im Guten zunehmen,
und dann zweifle ich nicht daran, daß Gott sie begna-
digen wird.

Sie erinnern sich nun wohl an die Abrede, die
wir mit einander genommen haben, daß wir in unsren
nächsten Unteredungen uns bemühen wollten, eine auf-
richtige Prüfung Jhres moralischen Zustandes anzustellen.
Sie werden dadurch fähig werden richtig zu beurtheilen,
ob Sie so, wie Sie sich nun selbst finden werden, mit
Ruhe und Hoffnung aus der Welt gehen können. Sie
wissen noch die Regeln über die Moralität, die wir neu-
lich festgesetzt haben. Diese wollen wir bey unserer Un-
tersuchung zum Grunde legen. Jch muß Sie nochmahls
bitten, mir hiebey mit Aufrichtigkeit und der nöthigen
Offenherzigkeit zu Hülfe zu kommen, und sich selbst nicht

mit


Fuͤnfte Unterredung, den 10ten Maͤrz.

Der Graf las bey meiner Ankunft in Gellerts morali-
ſchen Vorleſungen, und wußte die Vortrefflichkeit
dieſes Buches nicht genung zu ruͤhmen. Haͤtte ich nur
noch vor einem Jahre, ſagte er, ſolche Buͤcher in der
Entfernung von Zerſtreuungen geleſen, in der ich itzt
lebe, ſo wuͤrde ich gewiß ein ganz anderer Menſch ge-
worden ſeyn. Aber ich lebte im Traum! — Doch wo
findet man auch ſolche Chriſten! Jch glaube, antwortete
ich, Gellert war ein Chriſt von dieſer Art. Jch geſtehe
Jhnen gerne, ſolche Muſter ſind ſehr ſelten. Aber es
iſt auch nicht moͤglich, daß ſich alle gleich hoch erheben
koͤnnen. Dieß Buch zeigt die Vollkommenheit, nach
welcher billig alle trachten ſollten. Wer allen Fleiß an-
wendet gut und rechtſchaffen zu werden, der wird auch gut
und rechtſchaffen, wenn er gleich das Muſter, nach wel-
chem er ſich bildet, nicht ganz erreichet. Thun Sie auch
nur in dieſer Abſicht, was Sie noch thun koͤnnen, ſo
werden Sie bald merken, daß Sie im Guten zunehmen,
und dann zweifle ich nicht daran, daß Gott ſie begna-
digen wird.

Sie erinnern ſich nun wohl an die Abrede, die
wir mit einander genommen haben, daß wir in unſren
naͤchſten Unteredungen uns bemuͤhen wollten, eine auf-
richtige Pruͤfung Jhres moraliſchen Zuſtandes anzuſtellen.
Sie werden dadurch faͤhig werden richtig zu beurtheilen,
ob Sie ſo, wie Sie ſich nun ſelbſt finden werden, mit
Ruhe und Hoffnung aus der Welt gehen koͤnnen. Sie
wiſſen noch die Regeln uͤber die Moralitaͤt, die wir neu-
lich feſtgeſetzt haben. Dieſe wollen wir bey unſerer Un-
terſuchung zum Grunde legen. Jch muß Sie nochmahls
bitten, mir hiebey mit Aufrichtigkeit und der noͤthigen
Offenherzigkeit zu Huͤlfe zu kommen, und ſich ſelbſt nicht

mit
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0064" n="52"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Fu&#x0364;nfte Unterredung, den 10ten Ma&#x0364;rz.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>er Graf las bey meiner Ankunft in Gellerts morali-<lb/>
&#x017F;chen Vorle&#x017F;ungen, und wußte die Vortrefflichkeit<lb/>
die&#x017F;es Buches nicht genung zu ru&#x0364;hmen. Ha&#x0364;tte ich nur<lb/>
noch vor einem Jahre, &#x017F;agte er, &#x017F;olche Bu&#x0364;cher in der<lb/>
Entfernung von Zer&#x017F;treuungen gele&#x017F;en, in der ich itzt<lb/>
lebe, &#x017F;o wu&#x0364;rde ich gewiß ein ganz anderer Men&#x017F;ch ge-<lb/>
worden &#x017F;eyn. Aber ich lebte im Traum! &#x2014; Doch wo<lb/>
findet man auch &#x017F;olche Chri&#x017F;ten! Jch glaube, antwortete<lb/>
ich, Gellert war ein Chri&#x017F;t von die&#x017F;er Art. Jch ge&#x017F;tehe<lb/>
Jhnen gerne, &#x017F;olche Mu&#x017F;ter &#x017F;ind &#x017F;ehr &#x017F;elten. Aber es<lb/>
i&#x017F;t auch nicht mo&#x0364;glich, daß &#x017F;ich alle gleich hoch erheben<lb/>
ko&#x0364;nnen. Dieß Buch zeigt die Vollkommenheit, nach<lb/>
welcher billig alle trachten &#x017F;ollten. Wer allen Fleiß an-<lb/>
wendet gut und recht&#x017F;chaffen zu werden, der wird auch gut<lb/>
und recht&#x017F;chaffen, wenn er gleich das Mu&#x017F;ter, nach wel-<lb/>
chem er &#x017F;ich bildet, nicht ganz erreichet. Thun Sie auch<lb/>
nur in die&#x017F;er Ab&#x017F;icht, was Sie noch thun ko&#x0364;nnen, &#x017F;o<lb/>
werden Sie bald merken, daß Sie im Guten zunehmen,<lb/>
und dann zweifle ich nicht daran, daß Gott &#x017F;ie begna-<lb/>
digen wird.</p><lb/>
        <p>Sie erinnern &#x017F;ich nun wohl an die Abrede, die<lb/>
wir mit einander genommen haben, daß wir in un&#x017F;ren<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;ten Unteredungen uns bemu&#x0364;hen wollten, eine auf-<lb/>
richtige Pru&#x0364;fung Jhres morali&#x017F;chen Zu&#x017F;tandes anzu&#x017F;tellen.<lb/>
Sie werden dadurch fa&#x0364;hig werden richtig zu beurtheilen,<lb/>
ob Sie &#x017F;o, wie Sie &#x017F;ich nun &#x017F;elb&#x017F;t finden werden, mit<lb/>
Ruhe und Hoffnung aus der Welt gehen ko&#x0364;nnen. Sie<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en noch die Regeln u&#x0364;ber die Moralita&#x0364;t, die wir neu-<lb/>
lich fe&#x017F;tge&#x017F;etzt haben. Die&#x017F;e wollen wir bey un&#x017F;erer Un-<lb/>
ter&#x017F;uchung zum Grunde legen. Jch muß Sie nochmahls<lb/>
bitten, mir hiebey mit Aufrichtigkeit und der no&#x0364;thigen<lb/>
Offenherzigkeit zu Hu&#x0364;lfe zu kommen, und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mit</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0064] Fuͤnfte Unterredung, den 10ten Maͤrz. Der Graf las bey meiner Ankunft in Gellerts morali- ſchen Vorleſungen, und wußte die Vortrefflichkeit dieſes Buches nicht genung zu ruͤhmen. Haͤtte ich nur noch vor einem Jahre, ſagte er, ſolche Buͤcher in der Entfernung von Zerſtreuungen geleſen, in der ich itzt lebe, ſo wuͤrde ich gewiß ein ganz anderer Menſch ge- worden ſeyn. Aber ich lebte im Traum! — Doch wo findet man auch ſolche Chriſten! Jch glaube, antwortete ich, Gellert war ein Chriſt von dieſer Art. Jch geſtehe Jhnen gerne, ſolche Muſter ſind ſehr ſelten. Aber es iſt auch nicht moͤglich, daß ſich alle gleich hoch erheben koͤnnen. Dieß Buch zeigt die Vollkommenheit, nach welcher billig alle trachten ſollten. Wer allen Fleiß an- wendet gut und rechtſchaffen zu werden, der wird auch gut und rechtſchaffen, wenn er gleich das Muſter, nach wel- chem er ſich bildet, nicht ganz erreichet. Thun Sie auch nur in dieſer Abſicht, was Sie noch thun koͤnnen, ſo werden Sie bald merken, daß Sie im Guten zunehmen, und dann zweifle ich nicht daran, daß Gott ſie begna- digen wird. Sie erinnern ſich nun wohl an die Abrede, die wir mit einander genommen haben, daß wir in unſren naͤchſten Unteredungen uns bemuͤhen wollten, eine auf- richtige Pruͤfung Jhres moraliſchen Zuſtandes anzuſtellen. Sie werden dadurch faͤhig werden richtig zu beurtheilen, ob Sie ſo, wie Sie ſich nun ſelbſt finden werden, mit Ruhe und Hoffnung aus der Welt gehen koͤnnen. Sie wiſſen noch die Regeln uͤber die Moralitaͤt, die wir neu- lich feſtgeſetzt haben. Dieſe wollen wir bey unſerer Un- terſuchung zum Grunde legen. Jch muß Sie nochmahls bitten, mir hiebey mit Aufrichtigkeit und der noͤthigen Offenherzigkeit zu Huͤlfe zu kommen, und ſich ſelbſt nicht mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/64
Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/64>, abgerufen am 23.11.2024.