und daran wären, zu ertrinken"? Damals war das Wort des Lehrers ein religiöses Orakel. Heute ist die Autorität und Ehrfurcht vollständig untergraben. Schul- streike sind an der Tagesordnung. Der Lehrer kommt eines schönen Morgens in die Schule, und von den fünfzig Schülern der Klasse ist keiner erschienen. Oft kann man davon hören, daß sie ihren Willen durch- setzen, sei es, daß es sich um eine von ihnen beantragte Entfernung eines mißliebigen Lehrers handelt, sei es, daß man sich irgend einem ihrer Wünsche nicht will- fährig zeigte. Nicht selten schreiben die Schüler vor, was der Lehrer unterrichten soll, und wenn sie es nach ein paar Wochen überdrüssig sind, so befehlen sie wieder etwas anderes. Lehrer in Japan zu sein, ist keine Kleinigkeit, wenigstens keine Leichtigkeit. Unter dem Beispiel der Privatschulen lernen es auch die Lehrer der Staatsanstalten, nach der Pfeife der Schüler zu tanzen. Dem heutigen japanischen Schüler kann man bei all seinen Vorzügen den Vorwurf der Flegelhaftig- keit nicht ersparen. Der Mangel des religiösen und humanistischen Unterrichts macht sich bedenklich bemerk- bar. Zu spät erkennen die Meister, was für Geister sie sich großgezogen haben. Dem japanischen Studenten wird genug für seinen Verstand, aber zu wenig zur Bildung seines Charakters geboten. Das Wohl des Volkes erheischt mit apodiktischer Notwendigkeit einen folgerichtigen Ausbau des staatlichen und eine ent- schiedene Beschränkung des privaten Unterrichtswesens.
und daran wären, zu ertrinken“? Damals war das Wort des Lehrers ein religiöſes Orakel. Heute iſt die Autorität und Ehrfurcht vollſtändig untergraben. Schul- ſtreike ſind an der Tagesordnung. Der Lehrer kommt eines ſchönen Morgens in die Schule, und von den fünfzig Schülern der Klaſſe iſt keiner erſchienen. Oft kann man davon hören, daß ſie ihren Willen durch- ſetzen, ſei es, daß es ſich um eine von ihnen beantragte Entfernung eines mißliebigen Lehrers handelt, ſei es, daß man ſich irgend einem ihrer Wünſche nicht will- fährig zeigte. Nicht ſelten ſchreiben die Schüler vor, was der Lehrer unterrichten ſoll, und wenn ſie es nach ein paar Wochen überdrüſſig ſind, ſo befehlen ſie wieder etwas anderes. Lehrer in Japan zu ſein, iſt keine Kleinigkeit, wenigſtens keine Leichtigkeit. Unter dem Beiſpiel der Privatſchulen lernen es auch die Lehrer der Staatsanſtalten, nach der Pfeife der Schüler zu tanzen. Dem heutigen japaniſchen Schüler kann man bei all ſeinen Vorzügen den Vorwurf der Flegelhaftig- keit nicht erſparen. Der Mangel des religiöſen und humaniſtiſchen Unterrichts macht ſich bedenklich bemerk- bar. Zu ſpät erkennen die Meiſter, was für Geiſter ſie ſich großgezogen haben. Dem japaniſchen Studenten wird genug für ſeinen Verſtand, aber zu wenig zur Bildung ſeines Charakters geboten. Das Wohl des Volkes erheiſcht mit apodiktiſcher Notwendigkeit einen folgerichtigen Ausbau des ſtaatlichen und eine ent- ſchiedene Beſchränkung des privaten Unterrichtsweſens.
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und daran wären, zu ertrinken“? Damals war das
Wort des Lehrers ein religiöſes Orakel. Heute iſt die
Autorität und Ehrfurcht vollſtändig untergraben. Schul-
ſtreike ſind an der Tagesordnung. Der Lehrer kommt
eines ſchönen Morgens in die Schule, und von den
fünfzig Schülern der Klaſſe iſt keiner erſchienen. Oft
kann man davon hören, daß ſie ihren Willen durch-
ſetzen, ſei es, daß es ſich um eine von ihnen beantragte
Entfernung eines mißliebigen Lehrers handelt, ſei es,
daß man ſich irgend einem ihrer Wünſche nicht will-
fährig zeigte. Nicht ſelten ſchreiben die Schüler vor,
was der Lehrer unterrichten ſoll, und wenn ſie es nach
ein paar Wochen überdrüſſig ſind, ſo befehlen ſie wieder
etwas anderes. Lehrer in Japan zu ſein, iſt keine
Kleinigkeit, wenigſtens keine Leichtigkeit. Unter dem
Beiſpiel der Privatſchulen lernen es auch die Lehrer
der Staatsanſtalten, nach der Pfeife der Schüler zu
tanzen. Dem heutigen japaniſchen Schüler kann man
bei all ſeinen Vorzügen den Vorwurf der Flegelhaftig-
keit nicht erſparen. Der Mangel des religiöſen und
humaniſtiſchen Unterrichts macht ſich bedenklich bemerk-
bar. Zu ſpät erkennen die Meiſter, was für Geiſter
ſie ſich großgezogen haben. Dem japaniſchen Studenten
wird genug für ſeinen Verſtand, aber zu wenig zur
Bildung ſeines Charakters geboten. Das Wohl des
Volkes erheiſcht mit apodiktiſcher Notwendigkeit einen
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ſchiedene Beſchränkung des privaten Unterrichtsweſens.
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/109>, abgerufen am 24.11.2024.
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