daß kein entsprechender Ausdruck für Lüge vorhanden sei, sei ein Beweis dafür, daß dieses Laster in Japan überhaupt nicht existiere, daß es den Japanern fremd sei und ferne liege. Keine von beiden Behauptungen trifft den Nagel ganz auf den Kopf. Der Japaner ist im Lügen ebensowenig offen und geradeaus wie im Sagen der Wahrheit. Eine dreiste, freche Lüge geht ihm ebenso wider den Strich, wie eine rücksichtslose, ehrliche Wahrheit. Wohl aber ist zu bedenken, ob nicht das ganze System des falschen Scheins eine einzige große Lüge und Verlogenheit ist. Freilich der ganze scharfe Maßstab unserer Sittlichkeit darf an die japa- nische Verlogenheit nicht angelegt werden. Das gegen- wärtige Geschlecht ist für dieselbe wenig verantwortlich zu machen. Sie hat sich zu ihrer heutigen Ausprägung herausgestaltet durch die Verhältnisse der Feudalzeit, da das Volk rücksichtslos dem Druck von oben ausgesetzt war, da einer den andern mißtrauisch beobachtete und das Spionieren großgezogen wurde. Man sollte daher die Verlogenheit eher eine schlechte Sitte als einen bösen Charakterzug nennen. Das aber giebt zugleich die Hoffnung, daß das, was durch die Geschichte ent- wickelt wurde, auch durch die Geschichte wieder vernichtet wird, daß der japanische Charakter, welcher in den Sklavenketten des Feudalismus verdorben wurde, in der freien Luft der modernen Zeit ganz anders gedeihen werde. Hier ist eine Aufgabe, würdig des Christentums, die Japaner von einem Fluch zu befreien, mit welchem die Sünde vergangener Tage sie behaftete. Ihr Tem- perament als solches mag unveränderlich bleiben, weil es angeboren ist; dieser eine Zug aber, weil nachweis- lich geschichtlich bedingt, kann ein anderes Ansehen ge- winnen. Wenn es doch sichtbar zu Tage tritt, daß
daß kein entſprechender Ausdruck für Lüge vorhanden ſei, ſei ein Beweis dafür, daß dieſes Laſter in Japan überhaupt nicht exiſtiere, daß es den Japanern fremd ſei und ferne liege. Keine von beiden Behauptungen trifft den Nagel ganz auf den Kopf. Der Japaner iſt im Lügen ebenſowenig offen und geradeaus wie im Sagen der Wahrheit. Eine dreiſte, freche Lüge geht ihm ebenſo wider den Strich, wie eine rückſichtsloſe, ehrliche Wahrheit. Wohl aber iſt zu bedenken, ob nicht das ganze Syſtem des falſchen Scheins eine einzige große Lüge und Verlogenheit iſt. Freilich der ganze ſcharfe Maßſtab unſerer Sittlichkeit darf an die japa- niſche Verlogenheit nicht angelegt werden. Das gegen- wärtige Geſchlecht iſt für dieſelbe wenig verantwortlich zu machen. Sie hat ſich zu ihrer heutigen Ausprägung herausgeſtaltet durch die Verhältniſſe der Feudalzeit, da das Volk rückſichtslos dem Druck von oben ausgeſetzt war, da einer den andern mißtrauiſch beobachtete und das Spionieren großgezogen wurde. Man ſollte daher die Verlogenheit eher eine ſchlechte Sitte als einen böſen Charakterzug nennen. Das aber giebt zugleich die Hoffnung, daß das, was durch die Geſchichte ent- wickelt wurde, auch durch die Geſchichte wieder vernichtet wird, daß der japaniſche Charakter, welcher in den Sklavenketten des Feudalismus verdorben wurde, in der freien Luft der modernen Zeit ganz anders gedeihen werde. Hier iſt eine Aufgabe, würdig des Chriſtentums, die Japaner von einem Fluch zu befreien, mit welchem die Sünde vergangener Tage ſie behaftete. Ihr Tem- perament als ſolches mag unveränderlich bleiben, weil es angeboren iſt; dieſer eine Zug aber, weil nachweis- lich geſchichtlich bedingt, kann ein anderes Anſehen ge- winnen. Wenn es doch ſichtbar zu Tage tritt, daß
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daß kein entſprechender Ausdruck für Lüge vorhanden
ſei, ſei ein Beweis dafür, daß dieſes Laſter in Japan
überhaupt nicht exiſtiere, daß es den Japanern fremd
ſei und ferne liege. Keine von beiden Behauptungen
trifft den Nagel ganz auf den Kopf. Der Japaner iſt
im Lügen ebenſowenig offen und geradeaus wie im
Sagen der Wahrheit. Eine dreiſte, freche Lüge geht
ihm ebenſo wider den Strich, wie eine rückſichtsloſe,
ehrliche Wahrheit. Wohl aber iſt zu bedenken, ob nicht
das ganze Syſtem des falſchen Scheins eine einzige
große Lüge und Verlogenheit iſt. Freilich der ganze
ſcharfe Maßſtab unſerer Sittlichkeit darf an die japa-
niſche Verlogenheit nicht angelegt werden. Das gegen-
wärtige Geſchlecht iſt für dieſelbe wenig verantwortlich
zu machen. Sie hat ſich zu ihrer heutigen Ausprägung
herausgeſtaltet durch die Verhältniſſe der Feudalzeit, da
das Volk rückſichtslos dem Druck von oben ausgeſetzt
war, da einer den andern mißtrauiſch beobachtete und
das Spionieren großgezogen wurde. Man ſollte daher
die Verlogenheit eher eine ſchlechte Sitte als einen
böſen Charakterzug nennen. Das aber giebt zugleich
die Hoffnung, daß das, was durch die Geſchichte ent-
wickelt wurde, auch durch die Geſchichte wieder vernichtet
wird, daß der japaniſche Charakter, welcher in den
Sklavenketten des Feudalismus verdorben wurde, in
der freien Luft der modernen Zeit ganz anders gedeihen
werde. Hier iſt eine Aufgabe, würdig des Chriſtentums,
die Japaner von einem Fluch zu befreien, mit welchem
die Sünde vergangener Tage ſie behaftete. Ihr Tem-
perament als ſolches mag unveränderlich bleiben, weil
es angeboren iſt; dieſer eine Zug aber, weil nachweis-
lich geſchichtlich bedingt, kann ein anderes Anſehen ge-
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/115>, abgerufen am 24.11.2024.
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