unterdessen marode gewordenen Wolf zu überlassen. Ein solches Vorgehen, wenn auch wegen Mangel an Schiffen erklärlich, war an und für sich schon gewagt; es wäre aber geradezu unverantwortlich gewesen, wenn damals irgend welche, auch nur entfernte, Anzeichen auf Krieg gedeutet hätten. Die Japaner hatten es wieder einmal verstanden, die Welt zu überraschen.
Wer die Japaner über die Straßen von Tokyo hinwandeln sieht, alle Hast vermeidend, langsam und bedächtig, als hätten sie Zeit im Überfluß, allem Anschein nach in harmloser Gedankenlosigkeit, eine lebendige Illustration zu dem Dichterwort: "Und nichts zu suchen, das war mein Sinn"; wer sie beobachtet bei ihren Kirschblütenfesten, zufrieden und heiter, als gehe sie die ganze Welt mit ihren Pflichten und Sorgen nichts an, der ist versucht, ihr ganzes Leben als ein Dolce far niente zu betrachten. Und es giebt gute Beobachter des japanischen Lebens, welche meinen, daß diese Betrachtungs- weise die richtige sei; wenn sich im großen Getriebe heute allerdings eine unverkennbare unruhige Geschäftig- keit bemerkbar mache, so sei das eher die Folge einer gewissen Nervosität, als eines angeborenen Temperaments. Nun wäre es ja freilich kein Wunder, wenn die Ja- paner bei all dem Neuen, das in der jüngsten Ver- gangenheit auf sie einstürmte, nervös geworden wären. Der Japaner mit dem, was er in den letzten Jahr- zehnten erlebt hat, ist dem unglücklichen Provinzbewohner zu vergleichen, der sich für ein paar Wochen in der Großstadt vergnügen will und von seinen dortigen Freunden erbarmungslos von einem Museum zum andern, von einer Gemäldegallerie zur andern geschleppt wird. Dazu gehören eiserne Nerven. Der Japaner hat aber in zweiundeinhalbhundertjähriger Ruhe seine
unterdeſſen marode gewordenen Wolf zu überlaſſen. Ein ſolches Vorgehen, wenn auch wegen Mangel an Schiffen erklärlich, war an und für ſich ſchon gewagt; es wäre aber geradezu unverantwortlich geweſen, wenn damals irgend welche, auch nur entfernte, Anzeichen auf Krieg gedeutet hätten. Die Japaner hatten es wieder einmal verſtanden, die Welt zu überraſchen.
Wer die Japaner über die Straßen von Tokyo hinwandeln ſieht, alle Haſt vermeidend, langſam und bedächtig, als hätten ſie Zeit im Überfluß, allem Anſchein nach in harmloſer Gedankenloſigkeit, eine lebendige Illuſtration zu dem Dichterwort: „Und nichts zu ſuchen, das war mein Sinn“; wer ſie beobachtet bei ihren Kirſchblütenfeſten, zufrieden und heiter, als gehe ſie die ganze Welt mit ihren Pflichten und Sorgen nichts an, der iſt verſucht, ihr ganzes Leben als ein Dolce far niente zu betrachten. Und es giebt gute Beobachter des japaniſchen Lebens, welche meinen, daß dieſe Betrachtungs- weiſe die richtige ſei; wenn ſich im großen Getriebe heute allerdings eine unverkennbare unruhige Geſchäftig- keit bemerkbar mache, ſo ſei das eher die Folge einer gewiſſen Nervoſität, als eines angeborenen Temperaments. Nun wäre es ja freilich kein Wunder, wenn die Ja- paner bei all dem Neuen, das in der jüngſten Ver- gangenheit auf ſie einſtürmte, nervös geworden wären. Der Japaner mit dem, was er in den letzten Jahr- zehnten erlebt hat, iſt dem unglücklichen Provinzbewohner zu vergleichen, der ſich für ein paar Wochen in der Großſtadt vergnügen will und von ſeinen dortigen Freunden erbarmungslos von einem Muſeum zum andern, von einer Gemäldegallerie zur andern geſchleppt wird. Dazu gehören eiſerne Nerven. Der Japaner hat aber in zweiundeinhalbhundertjähriger Ruhe ſeine
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unterdeſſen marode gewordenen Wolf zu überlaſſen. Ein
ſolches Vorgehen, wenn auch wegen Mangel an Schiffen
erklärlich, war an und für ſich ſchon gewagt; es wäre
aber geradezu unverantwortlich geweſen, wenn damals
irgend welche, auch nur entfernte, Anzeichen auf Krieg
gedeutet hätten. Die Japaner hatten es wieder einmal
verſtanden, die Welt zu überraſchen.
Wer die Japaner über die Straßen von Tokyo
hinwandeln ſieht, alle Haſt vermeidend, langſam und
bedächtig, als hätten ſie Zeit im Überfluß, allem Anſchein
nach in harmloſer Gedankenloſigkeit, eine lebendige
Illuſtration zu dem Dichterwort: „Und nichts zu ſuchen,
das war mein Sinn“; wer ſie beobachtet bei ihren
Kirſchblütenfeſten, zufrieden und heiter, als gehe ſie die
ganze Welt mit ihren Pflichten und Sorgen nichts an,
der iſt verſucht, ihr ganzes Leben als ein Dolce far
niente zu betrachten. Und es giebt gute Beobachter des
japaniſchen Lebens, welche meinen, daß dieſe Betrachtungs-
weiſe die richtige ſei; wenn ſich im großen Getriebe
heute allerdings eine unverkennbare unruhige Geſchäftig-
keit bemerkbar mache, ſo ſei das eher die Folge einer
gewiſſen Nervoſität, als eines angeborenen Temperaments.
Nun wäre es ja freilich kein Wunder, wenn die Ja-
paner bei all dem Neuen, das in der jüngſten Ver-
gangenheit auf ſie einſtürmte, nervös geworden wären.
Der Japaner mit dem, was er in den letzten Jahr-
zehnten erlebt hat, iſt dem unglücklichen Provinzbewohner
zu vergleichen, der ſich für ein paar Wochen in der
Großſtadt vergnügen will und von ſeinen dortigen
Freunden erbarmungslos von einem Muſeum zum andern,
von einer Gemäldegallerie zur andern geſchleppt wird.
Dazu gehören eiſerne Nerven. Der Japaner hat
aber in zweiundeinhalbhundertjähriger Ruhe ſeine
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/119>, abgerufen am 24.11.2024.
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