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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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des klaren, logischen Folgerns und der kausalen Ge-
dankenverbindung ist, sondern die des Impulses, des
plötzlichen Erfassens. Das japanische Wissen ist mehr
divinatorischer als logischer Natur. Und so kommen
wir auch hier wieder zu demselben Ergebnis wie bei
der Betrachtung des Geisteslebens: Der Japaner ist mehr
ästhetisch als gedankentief veranlagt.

Das Temperament ist die Grundlage des Charakters,
und einige in der sanguinischen Natur des Japaners
begründete Charakterzüge sind so hervorstechend, daß
sie selbst bei einem bescheidenen Anspruch auf an-
nähernde Vollständigkeit hier nicht übergangen werden
dürfen.

Übertragen wir die Form des Denkens in das
Ethische und betrachten sie auf die Wirkungen hin, wie
sie sich im Verkehr mit dem Nebenmenschen aus ihr
ergeben, so wird uns die sprunghafte, impulsive Art
dieses Denkens, das ganze ungefestigte Naturell zur
Unzuverlässigkeit. In der That kann der Vorwurf der
Unzuverlässigkeit dem Japaner nicht erspart bleiben,
und es ist ein schwerer sittlicher Tadel, der damit aus-
gesprochen wird. Es werden in dieser Beziehung häufig
Vergleiche zwischen Japanern und Chinesen angestellt,
welche in den europäischen Handelskreisen Ostasiens
immer zu Ungunsten der ersteren ausfallen. Der
Chinese ist Phlegmatiker, und darum besitzt er die
Tugend der Treue und den Vorzug der Vertrauens-
würdigkeit. Er ergreift nicht leicht etwas, was ihm
fremd ist; was er aber einmal ergriffen hat, hält er
fest, und von seiner einmal gemachten Zusage geht er
nicht ab. Der frühere Leiter der größten englischen
Bank in Yokohama hat ausgesprochen, daß er auf der
ganzen Welt niemand kenne, dem er eher vertraue als

des klaren, logiſchen Folgerns und der kauſalen Ge-
dankenverbindung iſt, ſondern die des Impulſes, des
plötzlichen Erfaſſens. Das japaniſche Wiſſen iſt mehr
divinatoriſcher als logiſcher Natur. Und ſo kommen
wir auch hier wieder zu demſelben Ergebnis wie bei
der Betrachtung des Geiſteslebens: Der Japaner iſt mehr
äſthetiſch als gedankentief veranlagt.

Das Temperament iſt die Grundlage des Charakters,
und einige in der ſanguiniſchen Natur des Japaners
begründete Charakterzüge ſind ſo hervorſtechend, daß
ſie ſelbſt bei einem beſcheidenen Anſpruch auf an-
nähernde Vollſtändigkeit hier nicht übergangen werden
dürfen.

Übertragen wir die Form des Denkens in das
Ethiſche und betrachten ſie auf die Wirkungen hin, wie
ſie ſich im Verkehr mit dem Nebenmenſchen aus ihr
ergeben, ſo wird uns die ſprunghafte, impulſive Art
dieſes Denkens, das ganze ungefeſtigte Naturell zur
Unzuverläſſigkeit. In der That kann der Vorwurf der
Unzuverläſſigkeit dem Japaner nicht erſpart bleiben,
und es iſt ein ſchwerer ſittlicher Tadel, der damit aus-
geſprochen wird. Es werden in dieſer Beziehung häufig
Vergleiche zwiſchen Japanern und Chineſen angeſtellt,
welche in den europäiſchen Handelskreiſen Oſtaſiens
immer zu Ungunſten der erſteren ausfallen. Der
Chineſe iſt Phlegmatiker, und darum beſitzt er die
Tugend der Treue und den Vorzug der Vertrauens-
würdigkeit. Er ergreift nicht leicht etwas, was ihm
fremd iſt; was er aber einmal ergriffen hat, hält er
feſt, und von ſeiner einmal gemachten Zuſage geht er
nicht ab. Der frühere Leiter der größten engliſchen
Bank in Yokohama hat ausgeſprochen, daß er auf der
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[111/0125] des klaren, logiſchen Folgerns und der kauſalen Ge- dankenverbindung iſt, ſondern die des Impulſes, des plötzlichen Erfaſſens. Das japaniſche Wiſſen iſt mehr divinatoriſcher als logiſcher Natur. Und ſo kommen wir auch hier wieder zu demſelben Ergebnis wie bei der Betrachtung des Geiſteslebens: Der Japaner iſt mehr äſthetiſch als gedankentief veranlagt. Das Temperament iſt die Grundlage des Charakters, und einige in der ſanguiniſchen Natur des Japaners begründete Charakterzüge ſind ſo hervorſtechend, daß ſie ſelbſt bei einem beſcheidenen Anſpruch auf an- nähernde Vollſtändigkeit hier nicht übergangen werden dürfen. Übertragen wir die Form des Denkens in das Ethiſche und betrachten ſie auf die Wirkungen hin, wie ſie ſich im Verkehr mit dem Nebenmenſchen aus ihr ergeben, ſo wird uns die ſprunghafte, impulſive Art dieſes Denkens, das ganze ungefeſtigte Naturell zur Unzuverläſſigkeit. In der That kann der Vorwurf der Unzuverläſſigkeit dem Japaner nicht erſpart bleiben, und es iſt ein ſchwerer ſittlicher Tadel, der damit aus- geſprochen wird. Es werden in dieſer Beziehung häufig Vergleiche zwiſchen Japanern und Chineſen angeſtellt, welche in den europäiſchen Handelskreiſen Oſtaſiens immer zu Ungunſten der erſteren ausfallen. Der Chineſe iſt Phlegmatiker, und darum beſitzt er die Tugend der Treue und den Vorzug der Vertrauens- würdigkeit. Er ergreift nicht leicht etwas, was ihm fremd iſt; was er aber einmal ergriffen hat, hält er feſt, und von ſeiner einmal gemachten Zuſage geht er nicht ab. Der frühere Leiter der größten engliſchen Bank in Yokohama hat ausgeſprochen, daß er auf der ganzen Welt niemand kenne, dem er eher vertraue als

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/125>, abgerufen am 24.11.2024.