Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite
V. Familienleben und Sittenlehre.

Wer den Engländer nur von Deutschland aus
kennt, ist versucht, an das Märchen zu glauben, daß
über dem Kanal drüben dreißig Millionen spleenbe-
hafteter Menschen umherlaufen. Wer ihn auf der
Straße von London sieht oder in seiner "Office" in
der "City" aufsucht, gewinnt dagegen den Eindruck
als von einem sehr klugen, aber rücksichtslos ener-
gischen und vielleicht abstoßenden Geschäftsmann. Wem
es aber vergönnt war, ihn in seinem Hause zu be-
obachten, den weht mit einem Male ein warmer Hauch
germanischen Gemüts an, und der Engländer wird ihm
sympathisch. Ein Mann sieht anders aus im Gesell-
schaftsanzug in dem taghell erleuchteten Salon und
anders im Hauskleid in dem trauten Kreis seiner
Familie; und so lange wir einen Menschen nicht im
Negligee gesehen haben, d. h. in der Gemütlichkeit
seines Hauses, wo er sich gehen läßt, und wo auch das
-- es sei gut oder böse -- zum Vorschein kommt, was
er in dem konventionellen Leben draußen vor den Augen
von Dritten sorgfältig verbirgt, so lange kennen wir
ihn nur erst von einer Seite.

Wenn es aber irgendwo zur Beurteilung von
Menschen und Volk notwendig ist, in die Familie ein-
zukehren, so ist das in Japan der Fall. Nirgends hat
man der Familie größere Bedeutung beigemessen, nir-
gends ist sie so sehr die Grundlage aller bestehenden

V. Familienleben und Sittenlehre.

Wer den Engländer nur von Deutſchland aus
kennt, iſt verſucht, an das Märchen zu glauben, daß
über dem Kanal drüben dreißig Millionen ſpleenbe-
hafteter Menſchen umherlaufen. Wer ihn auf der
Straße von London ſieht oder in ſeiner „Office“ in
der „City“ aufſucht, gewinnt dagegen den Eindruck
als von einem ſehr klugen, aber rückſichtslos ener-
giſchen und vielleicht abſtoßenden Geſchäftsmann. Wem
es aber vergönnt war, ihn in ſeinem Hauſe zu be-
obachten, den weht mit einem Male ein warmer Hauch
germaniſchen Gemüts an, und der Engländer wird ihm
ſympathiſch. Ein Mann ſieht anders aus im Geſell-
ſchaftsanzug in dem taghell erleuchteten Salon und
anders im Hauskleid in dem trauten Kreis ſeiner
Familie; und ſo lange wir einen Menſchen nicht im
Negligée geſehen haben, d. h. in der Gemütlichkeit
ſeines Hauſes, wo er ſich gehen läßt, und wo auch das
— es ſei gut oder böſe — zum Vorſchein kommt, was
er in dem konventionellen Leben draußen vor den Augen
von Dritten ſorgfältig verbirgt, ſo lange kennen wir
ihn nur erſt von einer Seite.

Wenn es aber irgendwo zur Beurteilung von
Menſchen und Volk notwendig iſt, in die Familie ein-
zukehren, ſo iſt das in Japan der Fall. Nirgends hat
man der Familie größere Bedeutung beigemeſſen, nir-
gends iſt ſie ſo ſehr die Grundlage aller beſtehenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0141" n="[127]"/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#aq">V.</hi> Familienleben und Sittenlehre.</head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">W</hi>er den Engländer nur von Deut&#x017F;chland aus<lb/>
kennt, i&#x017F;t ver&#x017F;ucht, an das Märchen zu glauben, daß<lb/>
über dem Kanal drüben dreißig Millionen &#x017F;pleenbe-<lb/>
hafteter Men&#x017F;chen umherlaufen. Wer ihn auf der<lb/>
Straße von London &#x017F;ieht oder in &#x017F;einer <hi rendition="#aq">&#x201E;Office&#x201C;</hi> in<lb/>
der <hi rendition="#aq">&#x201E;City&#x201C;</hi> auf&#x017F;ucht, gewinnt dagegen den Eindruck<lb/>
als von einem &#x017F;ehr klugen, aber rück&#x017F;ichtslos ener-<lb/>
gi&#x017F;chen und vielleicht ab&#x017F;toßenden Ge&#x017F;chäftsmann. Wem<lb/>
es aber vergönnt war, ihn in &#x017F;einem Hau&#x017F;e zu be-<lb/>
obachten, den weht mit einem Male ein warmer Hauch<lb/>
germani&#x017F;chen Gemüts an, und der Engländer wird ihm<lb/>
&#x017F;ympathi&#x017F;ch. Ein Mann &#x017F;ieht anders aus im Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaftsanzug in dem taghell erleuchteten Salon und<lb/>
anders im Hauskleid in dem trauten Kreis &#x017F;einer<lb/>
Familie; und &#x017F;o lange wir einen Men&#x017F;chen nicht im<lb/>
Neglig<hi rendition="#aq">é</hi>e ge&#x017F;ehen haben, d. h. in der Gemütlichkeit<lb/>
&#x017F;eines Hau&#x017F;es, wo er &#x017F;ich gehen läßt, und wo auch das<lb/>
&#x2014; es &#x017F;ei gut oder bö&#x017F;e &#x2014; zum Vor&#x017F;chein kommt, was<lb/>
er in dem konventionellen Leben draußen vor den Augen<lb/>
von Dritten &#x017F;orgfältig verbirgt, &#x017F;o lange kennen wir<lb/>
ihn nur er&#x017F;t von einer Seite.</p><lb/>
        <p>Wenn es aber irgendwo zur Beurteilung von<lb/>
Men&#x017F;chen und Volk notwendig i&#x017F;t, in die Familie ein-<lb/>
zukehren, &#x017F;o i&#x017F;t das in Japan der Fall. Nirgends hat<lb/>
man der Familie größere Bedeutung beigeme&#x017F;&#x017F;en, nir-<lb/>
gends i&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;o &#x017F;ehr die Grundlage aller be&#x017F;tehenden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[127]/0141] V. Familienleben und Sittenlehre. Wer den Engländer nur von Deutſchland aus kennt, iſt verſucht, an das Märchen zu glauben, daß über dem Kanal drüben dreißig Millionen ſpleenbe- hafteter Menſchen umherlaufen. Wer ihn auf der Straße von London ſieht oder in ſeiner „Office“ in der „City“ aufſucht, gewinnt dagegen den Eindruck als von einem ſehr klugen, aber rückſichtslos ener- giſchen und vielleicht abſtoßenden Geſchäftsmann. Wem es aber vergönnt war, ihn in ſeinem Hauſe zu be- obachten, den weht mit einem Male ein warmer Hauch germaniſchen Gemüts an, und der Engländer wird ihm ſympathiſch. Ein Mann ſieht anders aus im Geſell- ſchaftsanzug in dem taghell erleuchteten Salon und anders im Hauskleid in dem trauten Kreis ſeiner Familie; und ſo lange wir einen Menſchen nicht im Negligée geſehen haben, d. h. in der Gemütlichkeit ſeines Hauſes, wo er ſich gehen läßt, und wo auch das — es ſei gut oder böſe — zum Vorſchein kommt, was er in dem konventionellen Leben draußen vor den Augen von Dritten ſorgfältig verbirgt, ſo lange kennen wir ihn nur erſt von einer Seite. Wenn es aber irgendwo zur Beurteilung von Menſchen und Volk notwendig iſt, in die Familie ein- zukehren, ſo iſt das in Japan der Fall. Nirgends hat man der Familie größere Bedeutung beigemeſſen, nir- gends iſt ſie ſo ſehr die Grundlage aller beſtehenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/141
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. [127]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/141>, abgerufen am 23.11.2024.