warum die nationale Religion des Shintoismus die Sonne als die höchste Gottheit bezeichnet. Es ist ein Sonnenland in des Wortes schönster Bedeutung.
Die Natur, welche im Winter nur kurze Zeit ruht, wird schon früh durch die Strahlen der Sonne zu neuem Leben geweckt. Schon Ende Februar blühen die Pflau- menbäume, und Ende März entfaltet der Kirschbaum seinen wunderbar schönen Blütenschmuck. Vom Früh- ling bis tief in den Winter sind Wald und Feld in einen Garten verwandelt. In allen Farben schimmern die Blumen. Was in Deutschland mühsam in Treib- häusern gezüchtet wird, wächst hier wild. Manchmal wenn ich im Walde spazieren ging, blieb mein Blick sinnend haften auf der Schönheit ringsum. Erst als ich in Japan die Lilien auf dem Felde sah, lernte ich das Jesuswort recht verstehen: "Schauet die Lilien auf dem Felde an; ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als dersel- ben eine". Dazwischen wiegen sich die Schmetterlinge und all das bunte Leben, welches sich in unserer hei- mischen Natur regt, findet sich auch hier. In den Zweigen der Waldbäume vergnügen sich Affen in ihren Kletterkünsten, und Hase und Truthahn entfliehen vor dem Nahen des menschlichen Schrittes. Keine Gefahr wilder Tiere bedroht den Wanderer; denn nur wenig an Zahl sind die giftigen Schlangen, und der wilde Bär hat sich zurückgezogen in die unwirtlichen Wälder des Nordens. Anmutig und friedlich ist das Leben der Tiere. Und über all dem wölbt sich schwarzgrün das schützende Dach des Fichtenbaumes oder die himmelan- strebende, majestätische Ceder.
Doch nicht im kleinen nur, nein auch im großen ist Japan ein schönes Land; nicht großartig zwar
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warum die nationale Religion des Shintoismus die Sonne als die höchſte Gottheit bezeichnet. Es iſt ein Sonnenland in des Wortes ſchönſter Bedeutung.
Die Natur, welche im Winter nur kurze Zeit ruht, wird ſchon früh durch die Strahlen der Sonne zu neuem Leben geweckt. Schon Ende Februar blühen die Pflau- menbäume, und Ende März entfaltet der Kirſchbaum ſeinen wunderbar ſchönen Blütenſchmuck. Vom Früh- ling bis tief in den Winter ſind Wald und Feld in einen Garten verwandelt. In allen Farben ſchimmern die Blumen. Was in Deutſchland mühſam in Treib- häuſern gezüchtet wird, wächſt hier wild. Manchmal wenn ich im Walde ſpazieren ging, blieb mein Blick ſinnend haften auf der Schönheit ringsum. Erſt als ich in Japan die Lilien auf dem Felde ſah, lernte ich das Jeſuswort recht verſtehen: „Schauet die Lilien auf dem Felde an; ich ſage euch, daß auch Salomo in aller ſeiner Herrlichkeit nicht bekleidet geweſen iſt als derſel- ben eine“. Dazwiſchen wiegen ſich die Schmetterlinge und all das bunte Leben, welches ſich in unſerer hei- miſchen Natur regt, findet ſich auch hier. In den Zweigen der Waldbäume vergnügen ſich Affen in ihren Kletterkünſten, und Haſe und Truthahn entfliehen vor dem Nahen des menſchlichen Schrittes. Keine Gefahr wilder Tiere bedroht den Wanderer; denn nur wenig an Zahl ſind die giftigen Schlangen, und der wilde Bär hat ſich zurückgezogen in die unwirtlichen Wälder des Nordens. Anmutig und friedlich iſt das Leben der Tiere. Und über all dem wölbt ſich ſchwarzgrün das ſchützende Dach des Fichtenbaumes oder die himmelan- ſtrebende, majeſtätiſche Ceder.
Doch nicht im kleinen nur, nein auch im großen iſt Japan ein ſchönes Land; nicht großartig zwar
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warum die nationale Religion des Shintoismus die
Sonne als die höchſte Gottheit bezeichnet. Es iſt ein
Sonnenland in des Wortes ſchönſter Bedeutung.
Die Natur, welche im Winter nur kurze Zeit ruht,
wird ſchon früh durch die Strahlen der Sonne zu neuem
Leben geweckt. Schon Ende Februar blühen die Pflau-
menbäume, und Ende März entfaltet der Kirſchbaum
ſeinen wunderbar ſchönen Blütenſchmuck. Vom Früh-
ling bis tief in den Winter ſind Wald und Feld in
einen Garten verwandelt. In allen Farben ſchimmern
die Blumen. Was in Deutſchland mühſam in Treib-
häuſern gezüchtet wird, wächſt hier wild. Manchmal
wenn ich im Walde ſpazieren ging, blieb mein Blick
ſinnend haften auf der Schönheit ringsum. Erſt als
ich in Japan die Lilien auf dem Felde ſah, lernte ich
das Jeſuswort recht verſtehen: „Schauet die Lilien auf
dem Felde an; ich ſage euch, daß auch Salomo in aller
ſeiner Herrlichkeit nicht bekleidet geweſen iſt als derſel-
ben eine“. Dazwiſchen wiegen ſich die Schmetterlinge
und all das bunte Leben, welches ſich in unſerer hei-
miſchen Natur regt, findet ſich auch hier. In den
Zweigen der Waldbäume vergnügen ſich Affen in ihren
Kletterkünſten, und Haſe und Truthahn entfliehen vor
dem Nahen des menſchlichen Schrittes. Keine Gefahr
wilder Tiere bedroht den Wanderer; denn nur wenig
an Zahl ſind die giftigen Schlangen, und der wilde
Bär hat ſich zurückgezogen in die unwirtlichen Wälder
des Nordens. Anmutig und friedlich iſt das Leben der
Tiere. Und über all dem wölbt ſich ſchwarzgrün das
ſchützende Dach des Fichtenbaumes oder die himmelan-
ſtrebende, majeſtätiſche Ceder.
Doch nicht im kleinen nur, nein auch im großen
iſt Japan ein ſchönes Land; nicht großartig zwar
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/17>, abgerufen am 24.11.2024.
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