jemand ein Anliegen hat, so schreibt er dasselbe auf ein Stück Papier, verkaut dieses im Munde, ballt es zu einem Klümpchen zusammen und speit es dem Nio an. Bleibt es hängen, so wird die Bitte erhört, fällt es aber ab, so findet sie keine Gewährung und der Bittgänger mag dann ein anderes Mittel versuchen, um zu seinem Ziele zu kommen.
Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht minder gewöhnlicher Art sind, und gerade sie erfreuen sich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von Asakusa besucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf, welcher schon durch sein abgenutztes Äußere beweist, daß er in großer Gunst bei dem Volke steht. Hände und Füße und andere Körperteile des Götzen sind fast vollständig durchgescheuert, die Nase ist so sehr abge- rieben, daß sie nicht mehr nach außen, sondern nach innen sich erstreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott ist der Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte Doktor Eisenbart, die Leute kuriert nach seiner Art. Wenn nämlich jemand eine Nasenkrankheit hat oder an irgend einem anderen Glied leidet, so reibt er mit der Hand den entsprechenden Körperteil des hotoke, und der Wunderdoktor Binzuru sorgt für das Weitere.
Den Ehrenplatz im Asakusatempel nimmt eine Gottheit edlerer Art ein, welche als die sympathischste Erscheinung der japanischen Götterwelt bezeichnet werden darf. Es ist die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon genannt. Von ihr wird erzählt, daß sie, als sie die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es verschmähte, in das Nirwana, den Zustand seligen Ver- gessens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen, wo sie die flehenden Bitten und Angstrufe der armen
jemand ein Anliegen hat, ſo ſchreibt er dasſelbe auf ein Stück Papier, verkaut dieſes im Munde, ballt es zu einem Klümpchen zuſammen und ſpeit es dem Niō an. Bleibt es hängen, ſo wird die Bitte erhört, fällt es aber ab, ſo findet ſie keine Gewährung und der Bittgänger mag dann ein anderes Mittel verſuchen, um zu ſeinem Ziele zu kommen.
Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht minder gewöhnlicher Art ſind, und gerade ſie erfreuen ſich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von Aſakuſa beſucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf, welcher ſchon durch ſein abgenutztes Äußere beweiſt, daß er in großer Gunſt bei dem Volke ſteht. Hände und Füße und andere Körperteile des Götzen ſind faſt vollſtändig durchgeſcheuert, die Naſe iſt ſo ſehr abge- rieben, daß ſie nicht mehr nach außen, ſondern nach innen ſich erſtreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott iſt der Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte Doktor Eiſenbart, die Leute kuriert nach ſeiner Art. Wenn nämlich jemand eine Naſenkrankheit hat oder an irgend einem anderen Glied leidet, ſo reibt er mit der Hand den entſprechenden Körperteil des hotoke, und der Wunderdoktor Binzuru ſorgt für das Weitere.
Den Ehrenplatz im Aſakuſatempel nimmt eine Gottheit edlerer Art ein, welche als die ſympathiſchſte Erſcheinung der japaniſchen Götterwelt bezeichnet werden darf. Es iſt die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon genannt. Von ihr wird erzählt, daß ſie, als ſie die höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es verſchmähte, in das Nirwana, den Zuſtand ſeligen Ver- geſſens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen, wo ſie die flehenden Bitten und Angſtrufe der armen
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0254"n="240"/>
jemand ein Anliegen hat, ſo ſchreibt er dasſelbe auf<lb/>
ein Stück Papier, verkaut dieſes im Munde, ballt es<lb/>
zu einem Klümpchen zuſammen und ſpeit es dem Ni<hirendition="#aq">ō</hi><lb/>
an. Bleibt es hängen, ſo wird die Bitte erhört, fällt<lb/>
es aber ab, ſo findet ſie keine Gewährung und der<lb/>
Bittgänger mag dann ein anderes Mittel verſuchen,<lb/>
um zu ſeinem Ziele zu kommen.</p><lb/><p>Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht<lb/>
minder gewöhnlicher Art ſind, und gerade ſie erfreuen<lb/>ſich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von<lb/>
Aſakuſa beſucht, dem fällt vor allem ein <hirendition="#aq">hotoke</hi> auf,<lb/>
welcher ſchon durch ſein abgenutztes Äußere beweiſt,<lb/>
daß er in großer Gunſt bei dem Volke ſteht. Hände<lb/>
und Füße und andere Körperteile des Götzen ſind faſt<lb/>
vollſtändig durchgeſcheuert, die Naſe iſt ſo ſehr abge-<lb/>
rieben, daß ſie nicht mehr nach außen, ſondern nach<lb/>
innen ſich erſtreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen<lb/>
als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott iſt der<lb/>
Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte<lb/>
Doktor Eiſenbart, die Leute kuriert nach ſeiner Art.<lb/>
Wenn nämlich jemand eine Naſenkrankheit hat oder an<lb/>
irgend einem anderen Glied leidet, ſo reibt er mit der<lb/>
Hand den entſprechenden Körperteil des <hirendition="#aq">hotoke,</hi> und der<lb/>
Wunderdoktor Binzuru ſorgt für das Weitere.</p><lb/><p>Den Ehrenplatz im Aſakuſatempel nimmt eine<lb/>
Gottheit edlerer Art ein, welche als die ſympathiſchſte<lb/>
Erſcheinung der japaniſchen Götterwelt bezeichnet werden<lb/>
darf. Es iſt die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon<lb/>
genannt. Von ihr wird erzählt, daß ſie, als ſie die<lb/>
höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es<lb/>
verſchmähte, in das Nirwana, den Zuſtand ſeligen Ver-<lb/>
geſſens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen,<lb/>
wo ſie die flehenden Bitten und Angſtrufe der armen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[240/0254]
jemand ein Anliegen hat, ſo ſchreibt er dasſelbe auf
ein Stück Papier, verkaut dieſes im Munde, ballt es
zu einem Klümpchen zuſammen und ſpeit es dem Niō
an. Bleibt es hängen, ſo wird die Bitte erhört, fällt
es aber ab, ſo findet ſie keine Gewährung und der
Bittgänger mag dann ein anderes Mittel verſuchen,
um zu ſeinem Ziele zu kommen.
Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht
minder gewöhnlicher Art ſind, und gerade ſie erfreuen
ſich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von
Aſakuſa beſucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf,
welcher ſchon durch ſein abgenutztes Äußere beweiſt,
daß er in großer Gunſt bei dem Volke ſteht. Hände
und Füße und andere Körperteile des Götzen ſind faſt
vollſtändig durchgeſcheuert, die Naſe iſt ſo ſehr abge-
rieben, daß ſie nicht mehr nach außen, ſondern nach
innen ſich erſtreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen
als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott iſt der
Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte
Doktor Eiſenbart, die Leute kuriert nach ſeiner Art.
Wenn nämlich jemand eine Naſenkrankheit hat oder an
irgend einem anderen Glied leidet, ſo reibt er mit der
Hand den entſprechenden Körperteil des hotoke, und der
Wunderdoktor Binzuru ſorgt für das Weitere.
Den Ehrenplatz im Aſakuſatempel nimmt eine
Gottheit edlerer Art ein, welche als die ſympathiſchſte
Erſcheinung der japaniſchen Götterwelt bezeichnet werden
darf. Es iſt die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon
genannt. Von ihr wird erzählt, daß ſie, als ſie die
höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es
verſchmähte, in das Nirwana, den Zuſtand ſeligen Ver-
geſſens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen,
wo ſie die flehenden Bitten und Angſtrufe der armen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/254>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.