Der Japaner verlangt, daß man zu jeder Stunde Zeit für ihn habe, womöglich sogar während der Unter- richtsstunden. In der ersten Zeit meines japanischen Aufenthaltes war die Nachfrage nach dem Missionar immer noch groß. Wenn ich um zwölf Uhr aus der Schule kam, warteten oft schon zwei bis drei Personen, so daß an ein gemütliches Essen nicht mehr zu denken war. Einmal, als ich vor sechs Uhr morgens aus meinem Schlafzimmer trat, -- das Frühaufstehen lernt sich hier von selbst, auch für den, der es früher nicht gewöhnt war, -- teilte mir der Schuldiener mit, daß schon seit fünf Uhr jemand auf mich warte; und dabei durfte ich es nicht als eine Rücksichtslosigkeit von seiten des Besuchers empfinden, mich so früh schon zu stören, sondern mußte es als eine Taktlosigkeit von mir betrachten, den Besucher so lange warten zu lassen, so daß ich den Diener wegen seines Versäumnisses, mich zu wecken, zurechtweisen mußte. Manches Mal des Abends, wenn man sich gerade in Ruhe auf den Unterricht am nächsten Vormittag vorbereiten wollte, kam japanischer Besuch, und dann durfte man die Vorbereitung ruhig auf die goldmundigen Frühstunden des nächsten Tages verschieben. Denn japanische Besuche dehnen sich nach unsern Be- griffen ungebührlich lang aus. Wo der Japaner ein- mal sitzt, steht er so bald nicht wieder auf. Das ame- rikanische Sprichwort: "Time is money", ist der Masse des Volkes bis jetzt noch nicht verständlich. Auch kann man den Besucher nicht fortschicken. Es giebt ja wohl auch verständnisvolle Leute; aber in der Regel würde selbst die feinste derartige Andeutung von dem in Sachen des Taktes mehr als feinfühligen Japaner sofort als ein Verstoß wider den Anstand empfunden werden. Der Anstand aber, die Höflichkeit, steht für weite Kreise
Der Japaner verlangt, daß man zu jeder Stunde Zeit für ihn habe, womöglich ſogar während der Unter- richtsſtunden. In der erſten Zeit meines japaniſchen Aufenthaltes war die Nachfrage nach dem Miſſionar immer noch groß. Wenn ich um zwölf Uhr aus der Schule kam, warteten oft ſchon zwei bis drei Perſonen, ſo daß an ein gemütliches Eſſen nicht mehr zu denken war. Einmal, als ich vor ſechs Uhr morgens aus meinem Schlafzimmer trat, — das Frühaufſtehen lernt ſich hier von ſelbſt, auch für den, der es früher nicht gewöhnt war, — teilte mir der Schuldiener mit, daß ſchon ſeit fünf Uhr jemand auf mich warte; und dabei durfte ich es nicht als eine Rückſichtsloſigkeit von ſeiten des Beſuchers empfinden, mich ſo früh ſchon zu ſtören, ſondern mußte es als eine Taktloſigkeit von mir betrachten, den Beſucher ſo lange warten zu laſſen, ſo daß ich den Diener wegen ſeines Verſäumniſſes, mich zu wecken, zurechtweiſen mußte. Manches Mal des Abends, wenn man ſich gerade in Ruhe auf den Unterricht am nächſten Vormittag vorbereiten wollte, kam japaniſcher Beſuch, und dann durfte man die Vorbereitung ruhig auf die goldmundigen Frühſtunden des nächſten Tages verſchieben. Denn japaniſche Beſuche dehnen ſich nach unſern Be- griffen ungebührlich lang aus. Wo der Japaner ein- mal ſitzt, ſteht er ſo bald nicht wieder auf. Das ame- rikaniſche Sprichwort: „Time is money“, iſt der Maſſe des Volkes bis jetzt noch nicht verſtändlich. Auch kann man den Beſucher nicht fortſchicken. Es giebt ja wohl auch verſtändnisvolle Leute; aber in der Regel würde ſelbſt die feinſte derartige Andeutung von dem in Sachen des Taktes mehr als feinfühligen Japaner ſofort als ein Verſtoß wider den Anſtand empfunden werden. Der Anſtand aber, die Höflichkeit, ſteht für weite Kreiſe
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Der Japaner verlangt, daß man zu jeder Stunde
Zeit für ihn habe, womöglich ſogar während der Unter-
richtsſtunden. In der erſten Zeit meines japaniſchen
Aufenthaltes war die Nachfrage nach dem Miſſionar
immer noch groß. Wenn ich um zwölf Uhr aus der
Schule kam, warteten oft ſchon zwei bis drei Perſonen,
ſo daß an ein gemütliches Eſſen nicht mehr zu denken
war. Einmal, als ich vor ſechs Uhr morgens aus
meinem Schlafzimmer trat, — das Frühaufſtehen lernt
ſich hier von ſelbſt, auch für den, der es früher nicht
gewöhnt war, — teilte mir der Schuldiener mit, daß
ſchon ſeit fünf Uhr jemand auf mich warte; und dabei
durfte ich es nicht als eine Rückſichtsloſigkeit von ſeiten
des Beſuchers empfinden, mich ſo früh ſchon zu ſtören,
ſondern mußte es als eine Taktloſigkeit von mir betrachten,
den Beſucher ſo lange warten zu laſſen, ſo daß ich den
Diener wegen ſeines Verſäumniſſes, mich zu wecken,
zurechtweiſen mußte. Manches Mal des Abends, wenn
man ſich gerade in Ruhe auf den Unterricht am nächſten
Vormittag vorbereiten wollte, kam japaniſcher Beſuch,
und dann durfte man die Vorbereitung ruhig auf die
goldmundigen Frühſtunden des nächſten Tages verſchieben.
Denn japaniſche Beſuche dehnen ſich nach unſern Be-
griffen ungebührlich lang aus. Wo der Japaner ein-
mal ſitzt, ſteht er ſo bald nicht wieder auf. Das ame-
rikaniſche Sprichwort: „Time is money“, iſt der Maſſe
des Volkes bis jetzt noch nicht verſtändlich. Auch kann
man den Beſucher nicht fortſchicken. Es giebt ja wohl
auch verſtändnisvolle Leute; aber in der Regel würde
ſelbſt die feinſte derartige Andeutung von dem in Sachen
des Taktes mehr als feinfühligen Japaner ſofort als
ein Verſtoß wider den Anſtand empfunden werden.
Der Anſtand aber, die Höflichkeit, ſteht für weite Kreiſe
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/318>, abgerufen am 22.11.2024.
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