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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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wertige Zeugnisse für die Kraft des Evangeliums 1).
Aber in diesen Erfolgen, wie sie die Missionslitteratur
mit Vorliebe anzuführen pflegt, ist dem nüchternen
Laienbeobachter der Beweis für den Segen, die Nütz-
lichkeit und Notwendigkeit der Mission noch nicht er-
bracht. Für ihn liegt das Entscheidende darin, daß
das Christentum Charaktere schafft, christliche Charaktere,
die sich im Strome des Lebens standhaft bewähren.
Unterziehen wir dasselbe darum einmal einer Prüfung.
Es soll eine unparteiische Prüfung werden, und nicht
die auffallendsten, sondern die nächstliegenden Fälle will
ich herausgreifen.

Im Herbste 1896 führte mich mein Weg nach Berlin.
Eines Tages stand ich auf der Friedrichstraße und sah
mir einen Schauladen an. Plötzlich wurde ich von
hinten angeredet: "Sie entschuldigen, Sie sind doch
wohl der Herr Pfarrer M.?" Ich drehte mich um
und -- vor mir stand ein kleiner Herr mit mongolischen
Gesichtszügen und lächelte mich freundlich an. Meine
Freude war sehr groß. Das war ja mein lieber junger
japanischer Freund F., ein treues Mitglied unserer
heidenchristlichen Gemeinde Hongo in Tokyo. Als blut-
junger Gymnasiast war er mit unserem ersten Missionar
Spinner bekannt geworden und nach vorhergegangenem
christlichen Unterricht wurde er getauft. Er hat auch
eine Zeitlang bei ihm im Hause gewohnt und hier den
Grund zu seinen deutschen litterarischen Kenntnissen
gelegt. Fast unscheinbar und bescheiden nach außen
hin, war er doch ein hochbegabter Mensch und in seiner
Klasse unbestritten der erste. Trotz seiner bekannten

1) Vergl. M. L. Gordon: "An American Missionary in Ja-
pan",
ein anspruchsloses Buch, aber lehrreich und unterhaltend
und darum empfehlenswert.
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wertige Zeugniſſe für die Kraft des Evangeliums 1).
Aber in dieſen Erfolgen, wie ſie die Miſſionslitteratur
mit Vorliebe anzuführen pflegt, iſt dem nüchternen
Laienbeobachter der Beweis für den Segen, die Nütz-
lichkeit und Notwendigkeit der Miſſion noch nicht er-
bracht. Für ihn liegt das Entſcheidende darin, daß
das Chriſtentum Charaktere ſchafft, chriſtliche Charaktere,
die ſich im Strome des Lebens ſtandhaft bewähren.
Unterziehen wir dasſelbe darum einmal einer Prüfung.
Es ſoll eine unparteiiſche Prüfung werden, und nicht
die auffallendſten, ſondern die nächſtliegenden Fälle will
ich herausgreifen.

Im Herbſte 1896 führte mich mein Weg nach Berlin.
Eines Tages ſtand ich auf der Friedrichſtraße und ſah
mir einen Schauladen an. Plötzlich wurde ich von
hinten angeredet: „Sie entſchuldigen, Sie ſind doch
wohl der Herr Pfarrer M.?“ Ich drehte mich um
und — vor mir ſtand ein kleiner Herr mit mongoliſchen
Geſichtszügen und lächelte mich freundlich an. Meine
Freude war ſehr groß. Das war ja mein lieber junger
japaniſcher Freund F., ein treues Mitglied unſerer
heidenchriſtlichen Gemeinde Hongo in Tokyo. Als blut-
junger Gymnaſiaſt war er mit unſerem erſten Miſſionar
Spinner bekannt geworden und nach vorhergegangenem
chriſtlichen Unterricht wurde er getauft. Er hat auch
eine Zeitlang bei ihm im Hauſe gewohnt und hier den
Grund zu ſeinen deutſchen litterariſchen Kenntniſſen
gelegt. Faſt unſcheinbar und beſcheiden nach außen
hin, war er doch ein hochbegabter Menſch und in ſeiner
Klaſſe unbeſtritten der erſte. Trotz ſeiner bekannten

1) Vergl. M. L. Gordon: „An American Missionary in Ja-
pan“,
ein anſpruchsloſes Buch, aber lehrreich und unterhaltend
und darum empfehlenswert.
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[339/0353] wertige Zeugniſſe für die Kraft des Evangeliums 1). Aber in dieſen Erfolgen, wie ſie die Miſſionslitteratur mit Vorliebe anzuführen pflegt, iſt dem nüchternen Laienbeobachter der Beweis für den Segen, die Nütz- lichkeit und Notwendigkeit der Miſſion noch nicht er- bracht. Für ihn liegt das Entſcheidende darin, daß das Chriſtentum Charaktere ſchafft, chriſtliche Charaktere, die ſich im Strome des Lebens ſtandhaft bewähren. Unterziehen wir dasſelbe darum einmal einer Prüfung. Es ſoll eine unparteiiſche Prüfung werden, und nicht die auffallendſten, ſondern die nächſtliegenden Fälle will ich herausgreifen. Im Herbſte 1896 führte mich mein Weg nach Berlin. Eines Tages ſtand ich auf der Friedrichſtraße und ſah mir einen Schauladen an. Plötzlich wurde ich von hinten angeredet: „Sie entſchuldigen, Sie ſind doch wohl der Herr Pfarrer M.?“ Ich drehte mich um und — vor mir ſtand ein kleiner Herr mit mongoliſchen Geſichtszügen und lächelte mich freundlich an. Meine Freude war ſehr groß. Das war ja mein lieber junger japaniſcher Freund F., ein treues Mitglied unſerer heidenchriſtlichen Gemeinde Hongo in Tokyo. Als blut- junger Gymnaſiaſt war er mit unſerem erſten Miſſionar Spinner bekannt geworden und nach vorhergegangenem chriſtlichen Unterricht wurde er getauft. Er hat auch eine Zeitlang bei ihm im Hauſe gewohnt und hier den Grund zu ſeinen deutſchen litterariſchen Kenntniſſen gelegt. Faſt unſcheinbar und beſcheiden nach außen hin, war er doch ein hochbegabter Menſch und in ſeiner Klaſſe unbeſtritten der erſte. Trotz ſeiner bekannten 1) Vergl. M. L. Gordon: „An American Missionary in Ja- pan“, ein anſpruchsloſes Buch, aber lehrreich und unterhaltend und darum empfehlenswert. 22*

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/353>, abgerufen am 17.06.2024.