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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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prägte Volksindividualität wie die japanische setzt in-
stinktiv alles daran, um in dem Kompromißstreit mit
der neuen Geistesmacht, mit der sie sich vermählen soll,
ihr eigenes Interesse zu wahren. In diesem Bestreben
sind zwei gefährliche Irrwege gegeben. Einmal will
die Volksindividualität da, wo sie meint, noch etwas
Besonderes, in dem Evangelium nicht Enthaltenes, zu
besitzen, dasselbe dem Christentum hinzufügen, und
andererseits versucht sie, alles das, was ihr selbst nicht
kongenial ist, von der Substanz des Christentums ab-
zuziehen.

Auf dem ersten dieser beiden Irrwege liegt die
Gefahr der Religionsmengerei. Die Unitarier, welche
neben dem Geburtstage Jesu auch noch den von Buddha,
Konfuzius und Sokrates feiern und, Jesus mit diesen
drei zusammenfassend, von einem "Shi-nin-kwai" "Vier-
männerbund" faseln, stehen heute lange nicht mehr ver-
einzelt da. In einem vor wenigen Jahren in der
Rikugo-Zasshi, dem wissenschaftlichen Organ der Kumiai-
kirchen, erschienenen Aufsatz, welcher nicht geringes Auf-
sehen erregte, war die Vermengung mit der alten
Morallehre so weit getrieben, daß das Christentum
gerade noch gut genug erschien, um das moderne
Mäntelchen des alten Konfuzianismus zu machen. Sehr
bezeichnend sind auch zwei Auslassungen in der Zeit-
schrift Nippon Shukyo (Japanische Religion). "Das
japanische Christentum", so sagt da ein japanischer
Christ "kann keine getreue Nachbildung des europäischen
oder amerikanischen Christentums sein. Es muß sich
mit gewissen "Himmelswahrheiten" des Shintoismus,
Buddhismus und Konfuzianismus assimilieren, um
den Charakter zu gewinnen, den es braucht, damit
es unsere nationalen Bedürfnissen entsprechen kann."

prägte Volksindividualität wie die japaniſche ſetzt in-
ſtinktiv alles daran, um in dem Kompromißſtreit mit
der neuen Geiſtesmacht, mit der ſie ſich vermählen ſoll,
ihr eigenes Intereſſe zu wahren. In dieſem Beſtreben
ſind zwei gefährliche Irrwege gegeben. Einmal will
die Volksindividualität da, wo ſie meint, noch etwas
Beſonderes, in dem Evangelium nicht Enthaltenes, zu
beſitzen, dasſelbe dem Chriſtentum hinzufügen, und
andererſeits verſucht ſie, alles das, was ihr ſelbſt nicht
kongenial iſt, von der Subſtanz des Chriſtentums ab-
zuziehen.

Auf dem erſten dieſer beiden Irrwege liegt die
Gefahr der Religionsmengerei. Die Unitarier, welche
neben dem Geburtstage Jeſu auch noch den von Buddha,
Konfuzius und Sokrates feiern und, Jeſus mit dieſen
drei zuſammenfaſſend, von einem „Shi-nin-kwai“ „Vier-
männerbund“ faſeln, ſtehen heute lange nicht mehr ver-
einzelt da. In einem vor wenigen Jahren in der
Rikugo-Zaſſhi, dem wiſſenſchaftlichen Organ der Kumiai-
kirchen, erſchienenen Aufſatz, welcher nicht geringes Auf-
ſehen erregte, war die Vermengung mit der alten
Morallehre ſo weit getrieben, daß das Chriſtentum
gerade noch gut genug erſchien, um das moderne
Mäntelchen des alten Konfuzianismus zu machen. Sehr
bezeichnend ſind auch zwei Auslaſſungen in der Zeit-
ſchrift Nippon Shukyo (Japaniſche Religion). „Das
japaniſche Chriſtentum“, ſo ſagt da ein japaniſcher
Chriſt „kann keine getreue Nachbildung des europäiſchen
oder amerikaniſchen Chriſtentums ſein. Es muß ſich
mit gewiſſen „Himmelswahrheiten“ des Shintoismus,
Buddhismus und Konfuzianismus aſſimilieren, um
den Charakter zu gewinnen, den es braucht, damit
es unſere nationalen Bedürfniſſen entſprechen kann.“

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[388/0402] prägte Volksindividualität wie die japaniſche ſetzt in- ſtinktiv alles daran, um in dem Kompromißſtreit mit der neuen Geiſtesmacht, mit der ſie ſich vermählen ſoll, ihr eigenes Intereſſe zu wahren. In dieſem Beſtreben ſind zwei gefährliche Irrwege gegeben. Einmal will die Volksindividualität da, wo ſie meint, noch etwas Beſonderes, in dem Evangelium nicht Enthaltenes, zu beſitzen, dasſelbe dem Chriſtentum hinzufügen, und andererſeits verſucht ſie, alles das, was ihr ſelbſt nicht kongenial iſt, von der Subſtanz des Chriſtentums ab- zuziehen. Auf dem erſten dieſer beiden Irrwege liegt die Gefahr der Religionsmengerei. Die Unitarier, welche neben dem Geburtstage Jeſu auch noch den von Buddha, Konfuzius und Sokrates feiern und, Jeſus mit dieſen drei zuſammenfaſſend, von einem „Shi-nin-kwai“ „Vier- männerbund“ faſeln, ſtehen heute lange nicht mehr ver- einzelt da. In einem vor wenigen Jahren in der Rikugo-Zaſſhi, dem wiſſenſchaftlichen Organ der Kumiai- kirchen, erſchienenen Aufſatz, welcher nicht geringes Auf- ſehen erregte, war die Vermengung mit der alten Morallehre ſo weit getrieben, daß das Chriſtentum gerade noch gut genug erſchien, um das moderne Mäntelchen des alten Konfuzianismus zu machen. Sehr bezeichnend ſind auch zwei Auslaſſungen in der Zeit- ſchrift Nippon Shukyo (Japaniſche Religion). „Das japaniſche Chriſtentum“, ſo ſagt da ein japaniſcher Chriſt „kann keine getreue Nachbildung des europäiſchen oder amerikaniſchen Chriſtentums ſein. Es muß ſich mit gewiſſen „Himmelswahrheiten“ des Shintoismus, Buddhismus und Konfuzianismus aſſimilieren, um den Charakter zu gewinnen, den es braucht, damit es unſere nationalen Bedürfniſſen entſprechen kann.“

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/402>, abgerufen am 24.11.2024.