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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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wird er geradezu unheilvoll. Seit dreißig Jahre sind
Tausende junger Japaner in das Ausland gegangen,
viele Hunderte haben in Deutschland studiert. Und mit
wenigen Ausnahmen gingen sie wieder zurück in ihre
Heimat, Heiden wie früher, tot und kalt wie zuvor.
Der Grund ist leicht abzusehen. Leben erzeugt sich nur
an Leben, gleich wie Feuer an Feuer sich entfacht. Weil
hier unter uns kein rechtes Leben ist, darum sind sie
nicht lebendig geworden, weil hier unter uns keine
Feuerflammen glühen, darum sind auch sie nicht ent-
zündet worden. Mit vielen von ihnen war ich per-
sönlich bekannt, und einmal ist es mir vergönnt gewesen,
einen von ihnen zu taufen. Es war der Sohn eines
hervorragenden Mitglieds des Parlaments, eines Füh-
rers der christentumsfeindlichen konservativen Partei.
Vier Jahre hatte er in Deutschland studiert und in den
vier Jahren war er nie in eine Kirche gekommen. Nach
seiner Rückkehr aus Deutschland war er durch ein Mit-
glied unseres Missionspersonals, das er auf der Über-
fahrt kennen gelernt hatte, mit uns bekannt geworden.
Er verkehrte jetzt viel mit uns, ohne aber für unsere
Arbeit das geringste Interesse zu haben. Da, nach
etwa zwei Jahren, begann er unsere Gottesdienste zu
besuchen und ein halbes Jahr später war er ein Mit-
glied unserer Gemeinde. Diesen Mann fragte ich ein-
mal, woher es denn gekommen sei, daß er nicht schon
in Deutschland mit dem Christentum Fühlung gewonnen
habe. Und seine Antwort lautete: "Meine deutschen
Freunde gingen ja selbst nie zur Kirche. Ich mußte
den Eindruck gewinnen, als gäben die Gebildeten nichts
auf das Christentum, und als sei dieses nur für die
Dummen da. In Europa schien mir das Christentum
seine Rolle ausgespielt zu haben. Sollten wir nun die

wird er geradezu unheilvoll. Seit dreißig Jahre ſind
Tauſende junger Japaner in das Ausland gegangen,
viele Hunderte haben in Deutſchland ſtudiert. Und mit
wenigen Ausnahmen gingen ſie wieder zurück in ihre
Heimat, Heiden wie früher, tot und kalt wie zuvor.
Der Grund iſt leicht abzuſehen. Leben erzeugt ſich nur
an Leben, gleich wie Feuer an Feuer ſich entfacht. Weil
hier unter uns kein rechtes Leben iſt, darum ſind ſie
nicht lebendig geworden, weil hier unter uns keine
Feuerflammen glühen, darum ſind auch ſie nicht ent-
zündet worden. Mit vielen von ihnen war ich per-
ſönlich bekannt, und einmal iſt es mir vergönnt geweſen,
einen von ihnen zu taufen. Es war der Sohn eines
hervorragenden Mitglieds des Parlaments, eines Füh-
rers der chriſtentumsfeindlichen konſervativen Partei.
Vier Jahre hatte er in Deutſchland ſtudiert und in den
vier Jahren war er nie in eine Kirche gekommen. Nach
ſeiner Rückkehr aus Deutſchland war er durch ein Mit-
glied unſeres Miſſionsperſonals, das er auf der Über-
fahrt kennen gelernt hatte, mit uns bekannt geworden.
Er verkehrte jetzt viel mit uns, ohne aber für unſere
Arbeit das geringſte Intereſſe zu haben. Da, nach
etwa zwei Jahren, begann er unſere Gottesdienſte zu
beſuchen und ein halbes Jahr ſpäter war er ein Mit-
glied unſerer Gemeinde. Dieſen Mann fragte ich ein-
mal, woher es denn gekommen ſei, daß er nicht ſchon
in Deutſchland mit dem Chriſtentum Fühlung gewonnen
habe. Und ſeine Antwort lautete: „Meine deutſchen
Freunde gingen ja ſelbſt nie zur Kirche. Ich mußte
den Eindruck gewinnen, als gäben die Gebildeten nichts
auf das Chriſtentum, und als ſei dieſes nur für die
Dummen da. In Europa ſchien mir das Chriſtentum
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[410/0424] wird er geradezu unheilvoll. Seit dreißig Jahre ſind Tauſende junger Japaner in das Ausland gegangen, viele Hunderte haben in Deutſchland ſtudiert. Und mit wenigen Ausnahmen gingen ſie wieder zurück in ihre Heimat, Heiden wie früher, tot und kalt wie zuvor. Der Grund iſt leicht abzuſehen. Leben erzeugt ſich nur an Leben, gleich wie Feuer an Feuer ſich entfacht. Weil hier unter uns kein rechtes Leben iſt, darum ſind ſie nicht lebendig geworden, weil hier unter uns keine Feuerflammen glühen, darum ſind auch ſie nicht ent- zündet worden. Mit vielen von ihnen war ich per- ſönlich bekannt, und einmal iſt es mir vergönnt geweſen, einen von ihnen zu taufen. Es war der Sohn eines hervorragenden Mitglieds des Parlaments, eines Füh- rers der chriſtentumsfeindlichen konſervativen Partei. Vier Jahre hatte er in Deutſchland ſtudiert und in den vier Jahren war er nie in eine Kirche gekommen. Nach ſeiner Rückkehr aus Deutſchland war er durch ein Mit- glied unſeres Miſſionsperſonals, das er auf der Über- fahrt kennen gelernt hatte, mit uns bekannt geworden. Er verkehrte jetzt viel mit uns, ohne aber für unſere Arbeit das geringſte Intereſſe zu haben. Da, nach etwa zwei Jahren, begann er unſere Gottesdienſte zu beſuchen und ein halbes Jahr ſpäter war er ein Mit- glied unſerer Gemeinde. Dieſen Mann fragte ich ein- mal, woher es denn gekommen ſei, daß er nicht ſchon in Deutſchland mit dem Chriſtentum Fühlung gewonnen habe. Und ſeine Antwort lautete: „Meine deutſchen Freunde gingen ja ſelbſt nie zur Kirche. Ich mußte den Eindruck gewinnen, als gäben die Gebildeten nichts auf das Chriſtentum, und als ſei dieſes nur für die Dummen da. In Europa ſchien mir das Chriſtentum ſeine Rolle ausgeſpielt zu haben. Sollten wir nun die

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/424>, abgerufen am 24.11.2024.