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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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ganze Land" in keiner Weise mehr zutrifft, sind der Be-
weis dafür, daß die förmliche, aber ästhetische Höflich-
keit zurücktritt, je mehr die Kultur voranschreitet. Wer
aber gesehen hat, wie Afrikaner und Araber, Indianer
und Ostasiaten sich begrüßen, weiß, daß Europens über-
tünchte Höflichkeit auch nicht entfernt an das heranreicht.

Der Japaner entstellt auch sein Gesicht nicht durch
Leidenschaften. Zornausbrüche mit all ihren häßlichen
Begleiterscheinungen von Gesichtsverzerrungen und un-
harmonischen Bewegungen widerstreben seinem ästhe-
tischen Sinn. Der Europäer, der sich seinen Gefühlen
blind überläßt, sei es des Zornes oder des Schmerzes
oder der Lust, gilt ihm als innerlich roh und ungesittet.
Das lebhafte Minen- und Gestenspiel von Franzosen
und Italienern erfüllt ihn mit Staunen und Abscheu.
Ein liebenswürdiges Lächeln umspielt im Verkehr mit
dem Nächsten seine Lippen, aber lautes, zwergfell-
erschütterndes Lachen, ebenso wie lautes Schreien wider-
strebt seinem feinen Gefühl und ist das ausschließliche
Vorrecht von Kellnerinnen und Geisha, die eben jenseits
der Grenze des Anstandes liegen. Der Japaner liebt
das Harmonische nicht nur in seiner Umgebung sondern
auch an sich selbst. Die Trunksucht mit all ihrer ab-
stoßenden Häßlichkeit ist in Japan ein wenig verbreitetes
Laster. In Bezug auf geistige Getränke sind sie nüchtern
und mäßig. Ein Wirtshausleben in unserm Sinne, wo
man zu bestimmten Stunden am Stammtisch zu einem
Spielchen oder zu einer gemütlichen Plauderei sich trifft,
wo man aber auch oft nur hingeht, um dem Gott
Bacchus zu opfern, giebt es in Japan nicht. Die so-
genannten Theehäuser sind Gasthäuser zum Herbergen
von Fremden oder zu kurzer Rast für Ausflügler, und
das Getränk, das man dort in der Regel zu sich nimmt,

ganze Land“ in keiner Weiſe mehr zutrifft, ſind der Be-
weis dafür, daß die förmliche, aber äſthetiſche Höflich-
keit zurücktritt, je mehr die Kultur voranſchreitet. Wer
aber geſehen hat, wie Afrikaner und Araber, Indianer
und Oſtaſiaten ſich begrüßen, weiß, daß Europens über-
tünchte Höflichkeit auch nicht entfernt an das heranreicht.

Der Japaner entſtellt auch ſein Geſicht nicht durch
Leidenſchaften. Zornausbrüche mit all ihren häßlichen
Begleiterſcheinungen von Geſichtsverzerrungen und un-
harmoniſchen Bewegungen widerſtreben ſeinem äſthe-
tiſchen Sinn. Der Europäer, der ſich ſeinen Gefühlen
blind überläßt, ſei es des Zornes oder des Schmerzes
oder der Luſt, gilt ihm als innerlich roh und ungeſittet.
Das lebhafte Minen- und Geſtenſpiel von Franzoſen
und Italienern erfüllt ihn mit Staunen und Abſcheu.
Ein liebenswürdiges Lächeln umſpielt im Verkehr mit
dem Nächſten ſeine Lippen, aber lautes, zwergfell-
erſchütterndes Lachen, ebenſo wie lautes Schreien wider-
ſtrebt ſeinem feinen Gefühl und iſt das ausſchließliche
Vorrecht von Kellnerinnen und Geiſha, die eben jenſeits
der Grenze des Anſtandes liegen. Der Japaner liebt
das Harmoniſche nicht nur in ſeiner Umgebung ſondern
auch an ſich ſelbſt. Die Trunkſucht mit all ihrer ab-
ſtoßenden Häßlichkeit iſt in Japan ein wenig verbreitetes
Laſter. In Bezug auf geiſtige Getränke ſind ſie nüchtern
und mäßig. Ein Wirtshausleben in unſerm Sinne, wo
man zu beſtimmten Stunden am Stammtiſch zu einem
Spielchen oder zu einer gemütlichen Plauderei ſich trifft,
wo man aber auch oft nur hingeht, um dem Gott
Bacchus zu opfern, giebt es in Japan nicht. Die ſo-
genannten Theehäuſer ſind Gaſthäuſer zum Herbergen
von Fremden oder zu kurzer Raſt für Ausflügler, und
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[80/0094] ganze Land“ in keiner Weiſe mehr zutrifft, ſind der Be- weis dafür, daß die förmliche, aber äſthetiſche Höflich- keit zurücktritt, je mehr die Kultur voranſchreitet. Wer aber geſehen hat, wie Afrikaner und Araber, Indianer und Oſtaſiaten ſich begrüßen, weiß, daß Europens über- tünchte Höflichkeit auch nicht entfernt an das heranreicht. Der Japaner entſtellt auch ſein Geſicht nicht durch Leidenſchaften. Zornausbrüche mit all ihren häßlichen Begleiterſcheinungen von Geſichtsverzerrungen und un- harmoniſchen Bewegungen widerſtreben ſeinem äſthe- tiſchen Sinn. Der Europäer, der ſich ſeinen Gefühlen blind überläßt, ſei es des Zornes oder des Schmerzes oder der Luſt, gilt ihm als innerlich roh und ungeſittet. Das lebhafte Minen- und Geſtenſpiel von Franzoſen und Italienern erfüllt ihn mit Staunen und Abſcheu. Ein liebenswürdiges Lächeln umſpielt im Verkehr mit dem Nächſten ſeine Lippen, aber lautes, zwergfell- erſchütterndes Lachen, ebenſo wie lautes Schreien wider- ſtrebt ſeinem feinen Gefühl und iſt das ausſchließliche Vorrecht von Kellnerinnen und Geiſha, die eben jenſeits der Grenze des Anſtandes liegen. Der Japaner liebt das Harmoniſche nicht nur in ſeiner Umgebung ſondern auch an ſich ſelbſt. Die Trunkſucht mit all ihrer ab- ſtoßenden Häßlichkeit iſt in Japan ein wenig verbreitetes Laſter. In Bezug auf geiſtige Getränke ſind ſie nüchtern und mäßig. Ein Wirtshausleben in unſerm Sinne, wo man zu beſtimmten Stunden am Stammtiſch zu einem Spielchen oder zu einer gemütlichen Plauderei ſich trifft, wo man aber auch oft nur hingeht, um dem Gott Bacchus zu opfern, giebt es in Japan nicht. Die ſo- genannten Theehäuſer ſind Gaſthäuſer zum Herbergen von Fremden oder zu kurzer Raſt für Ausflügler, und das Getränk, das man dort in der Regel zu ſich nimmt,

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/94>, abgerufen am 25.05.2024.