Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Grandison der Zweite, Oder Geschichte des Herrn v. N*** in Briefen entworfen. [Erster Theil.] Eisenach, 1760.

Bild:
<< vorherige Seite

v. W. bei der Tafel, Lampert vertrat die Stelle eines Hoffouriers, und wies jedem seinen Platz an. Hier sitzen Sie, gnädiger Herr, neben dem Fräulein v. W., schrie er, gleich und gleich gesellt sich, und lachte abscheulich. Das vortreffliche gleiche Paar! Fräulein Julgen hatte ihren besten Putz anlegen müssen. Wahrhaftig ein allerliebstes Mädchen! Sie muß nicht meine Tante, sie muß meine Schwester werden. Ich drehete mich, ehe wir uns setzten hin und her, um mit ihr ein Wort alleine reden zu können; es wollte sich aber nicht füglich thun lassen. Wir würden das Reden auch haben entbehren und einander doch verstehen können, wenn sie meine Gedanken so gut als ich die ihrigen errathen hätte. Die Backen glüheten dem guten Kinde vor Angst und Erwartung ihres Schicksals. Sie schlug fast immer die Augen nieder, und wagte es nur dann und wann, auf mich einen furchtsamen Blick zu thun. Ich wurde dadurch so gerühret, daß ich durch nichts anders, als durch eine Kritik über unsern Oncle, mich von einer merklichen Tiefsinnigkeit

v. W. bei der Tafel, Lampert vertrat die Stelle eines Hoffouriers, und wies jedem seinen Platz an. Hier sitzen Sie, gnädiger Herr, neben dem Fräulein v. W., schrie er, gleich und gleich gesellt sich, und lachte abscheulich. Das vortreffliche gleiche Paar! Fräulein Julgen hatte ihren besten Putz anlegen müssen. Wahrhaftig ein allerliebstes Mädchen! Sie muß nicht meine Tante, sie muß meine Schwester werden. Ich drehete mich, ehe wir uns setzten hin und her, um mit ihr ein Wort alleine reden zu können; es wollte sich aber nicht füglich thun lassen. Wir würden das Reden auch haben entbehren und einander doch verstehen können, wenn sie meine Gedanken so gut als ich die ihrigen errathen hätte. Die Backen glüheten dem guten Kinde vor Angst und Erwartung ihres Schicksals. Sie schlug fast immer die Augen nieder, und wagte es nur dann und wann, auf mich einen furchtsamen Blick zu thun. Ich wurde dadurch so gerühret, daß ich durch nichts anders, als durch eine Kritik über unsern Oncle, mich von einer merklichen Tiefsinnigkeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter" n="1">
        <p><pb facs="#f0279" n="264"/>
v. W. bei der Tafel, Lampert vertrat die Stelle eines Hoffouriers, und wies jedem seinen Platz an. Hier sitzen Sie, gnädiger Herr, neben dem Fräulein v. W., schrie er, gleich und gleich gesellt sich, und lachte abscheulich. Das vortreffliche gleiche Paar! Fräulein Julgen hatte ihren besten Putz anlegen müssen. Wahrhaftig ein allerliebstes Mädchen! Sie muß nicht meine Tante, sie muß meine Schwester werden. Ich drehete mich, ehe wir uns setzten hin und her, um mit ihr ein Wort alleine reden zu können; es wollte sich aber nicht füglich thun lassen. Wir würden das Reden auch haben entbehren und einander doch verstehen können, wenn sie meine Gedanken so gut als ich die ihrigen errathen hätte. Die Backen glüheten dem guten Kinde vor Angst und Erwartung ihres Schicksals. Sie schlug fast immer die Augen nieder, und wagte es nur dann und wann, auf mich einen furchtsamen Blick zu thun. Ich wurde dadurch so gerühret, daß ich durch nichts anders, als durch eine Kritik über unsern Oncle, mich von einer merklichen Tiefsinnigkeit
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[264/0279] v. W. bei der Tafel, Lampert vertrat die Stelle eines Hoffouriers, und wies jedem seinen Platz an. Hier sitzen Sie, gnädiger Herr, neben dem Fräulein v. W., schrie er, gleich und gleich gesellt sich, und lachte abscheulich. Das vortreffliche gleiche Paar! Fräulein Julgen hatte ihren besten Putz anlegen müssen. Wahrhaftig ein allerliebstes Mädchen! Sie muß nicht meine Tante, sie muß meine Schwester werden. Ich drehete mich, ehe wir uns setzten hin und her, um mit ihr ein Wort alleine reden zu können; es wollte sich aber nicht füglich thun lassen. Wir würden das Reden auch haben entbehren und einander doch verstehen können, wenn sie meine Gedanken so gut als ich die ihrigen errathen hätte. Die Backen glüheten dem guten Kinde vor Angst und Erwartung ihres Schicksals. Sie schlug fast immer die Augen nieder, und wagte es nur dann und wann, auf mich einen furchtsamen Blick zu thun. Ich wurde dadurch so gerühret, daß ich durch nichts anders, als durch eine Kritik über unsern Oncle, mich von einer merklichen Tiefsinnigkeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien
  • Der Seitenumbruch erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Worttrennungen am Zeilenende entfallen.
  • Das lange „s“ („ſ“) wird als normales rundes „s“ wiedergegeben.
  • Auslassungspunkte werden, unabhängig von der Anzahl der Punkte, als „…“ (Sonderzeichen Alt+0133) wiedergegeben.
  • Apostrophe werden durch das Sonderzeichen „’“ (Alt+0146) wiedergegeben (nicht durch die Variante auf der Tastatur).
  • Bindestriche werden durch den normalen Bindestrich „-“ wiedergegeben (nicht durch „=“).
  • Gleichheitszeichen „=“ werden als normale Gedankenstriche (Halbgeviertstriche) „–“ wiedergegeben.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_grandison01_1760
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_grandison01_1760/279
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Grandison der Zweite, Oder Geschichte des Herrn v. N*** in Briefen entworfen. [Erster Theil.] Eisenach, 1760, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_grandison01_1760/279>, abgerufen am 22.11.2024.