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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

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Tochter Zion nicht mit so vielem modischen
Flitterstaat belastet einhertreten, daß man
ihre wahre Gestalt schwerlich mehr heraus
zu finden vermag.

Denn wahrlich! wenn ich mir die Glau-
bens-Physiognomie unsrer Kirch zur ietzi-
gen Zeit und zwey hundert Jahr zurückgezählt
genau betracht', so find' ich weniger Aehn-
lichkeit zwischen beyden, als zwischen Ka-
pitän Rambold und seinem neugebornen
Kinde; wo ich doch nach langem Beschauen
endlich auf die Grundphysiognomie stieß,
und solche zu beobachten so glücklich war,
welches mir mehr Freude macht', als wenn
ich den Venustrabanten in der Sonn' er-
blickt hätt.

Eigentlich war das mein physiognomi-
sches Pensum, das ich diesen Tag studiren
wollt', und das ich über die theologischen
Händel, die mir den Kopf ganz irr' gemacht
hatten, bald gar aus der Acht gelassen hätt.
Jch kam mit meinen Beobachtungen noch
just zurecht, die frappante, freilich veriüng-
te Aehnlichkeit des Kinderprofils mit der sei-
nes Vates, zu erhaschen. Sie stund schon
tief am Horizonte und eine Stunde nachher
war sie ganz verschwunden: der kleine Balg

hatte

Tochter Zion nicht mit ſo vielem modiſchen
Flitterſtaat belaſtet einhertreten, daß man
ihre wahre Geſtalt ſchwerlich mehr heraus
zu finden vermag.

Denn wahrlich! wenn ich mir die Glau-
bens-Phyſiognomie unſrer Kirch zur ietzi-
gen Zeit und zwey hundert Jahr zuruͤckgezaͤhlt
genau betracht’, ſo find’ ich weniger Aehn-
lichkeit zwiſchen beyden, als zwiſchen Ka-
pitaͤn Rambold und ſeinem neugebornen
Kinde; wo ich doch nach langem Beſchauen
endlich auf die Grundphyſiognomie ſtieß,
und ſolche zu beobachten ſo gluͤcklich war,
welches mir mehr Freude macht’, als wenn
ich den Venustrabanten in der Sonn’ er-
blickt haͤtt.

Eigentlich war das mein phyſiognomi-
ſches Penſum, das ich dieſen Tag ſtudiren
wollt’, und das ich uͤber die theologiſchen
Haͤndel, die mir den Kopf ganz irr’ gemacht
hatten, bald gar aus der Acht gelaſſen haͤtt.
Jch kam mit meinen Beobachtungen noch
juſt zurecht, die frappante, freilich veriuͤng-
te Aehnlichkeit des Kinderprofils mit der ſei-
nes Vates, zu erhaſchen. Sie ſtund ſchon
tief am Horizonte und eine Stunde nachher
war ſie ganz verſchwunden: der kleine Balg

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[118/0124] Tochter Zion nicht mit ſo vielem modiſchen Flitterſtaat belaſtet einhertreten, daß man ihre wahre Geſtalt ſchwerlich mehr heraus zu finden vermag. Denn wahrlich! wenn ich mir die Glau- bens-Phyſiognomie unſrer Kirch zur ietzi- gen Zeit und zwey hundert Jahr zuruͤckgezaͤhlt genau betracht’, ſo find’ ich weniger Aehn- lichkeit zwiſchen beyden, als zwiſchen Ka- pitaͤn Rambold und ſeinem neugebornen Kinde; wo ich doch nach langem Beſchauen endlich auf die Grundphyſiognomie ſtieß, und ſolche zu beobachten ſo gluͤcklich war, welches mir mehr Freude macht’, als wenn ich den Venustrabanten in der Sonn’ er- blickt haͤtt. Eigentlich war das mein phyſiognomi- ſches Penſum, das ich dieſen Tag ſtudiren wollt’, und das ich uͤber die theologiſchen Haͤndel, die mir den Kopf ganz irr’ gemacht hatten, bald gar aus der Acht gelaſſen haͤtt. Jch kam mit meinen Beobachtungen noch juſt zurecht, die frappante, freilich veriuͤng- te Aehnlichkeit des Kinderprofils mit der ſei- nes Vates, zu erhaſchen. Sie ſtund ſchon tief am Horizonte und eine Stunde nachher war ſie ganz verſchwunden: der kleine Balg hatte

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/124>, abgerufen am 21.11.2024.