Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

in unserm ganzen Benehmen zeigt sich, wie
in unsern Grundsätzen, ein mächtiger Un-
terschied. Er fliegt perpendikulär aufwärts
mit Geräusch, wie ein Kunstfeuer, zeichnet
einen langen Strahl hinter sich, dem der
neugierige Pöbel nachgaft und applaudirt;
ich halte die Horizontallinie, schleiche un-
bemerkt im Dunkeln fort, und Anstaunung
und Maulaufsperre kümmert mich wenig.
Jhn hat die Physiognomik mitten auf den
Schauplaz der Welt gezogen; mich hat sie
aus der Gesellschaft der Menschen gerissen.
Jhn lehrt sie unendliche Vollkommenheiten
an den Menschen entdecken, die seine Men-
schenliebe erwärmen; mir stoßen mit iedem
Schritt vorwärts, so viel neue, vorher un-
bemerkte Gebrechen und Mängel auf, die
mich so ausgekältet haben, daß ich gar
nichts liebenswürdiges mehr an den Men-
schen finde. Bey diesen Abweichungen aber
sind wir einander doch wieder in einem Stück

vollkom-
D 5

in unſerm ganzen Benehmen zeigt ſich, wie
in unſern Grundſaͤtzen, ein maͤchtiger Un-
terſchied. Er fliegt perpendikulaͤr aufwaͤrts
mit Geraͤuſch, wie ein Kunſtfeuer, zeichnet
einen langen Strahl hinter ſich, dem der
neugierige Poͤbel nachgaft und applaudirt;
ich halte die Horizontallinie, ſchleiche un-
bemerkt im Dunkeln fort, und Anſtaunung
und Maulaufſperre kuͤmmert mich wenig.
Jhn hat die Phyſiognomik mitten auf den
Schauplaz der Welt gezogen; mich hat ſie
aus der Geſellſchaft der Menſchen geriſſen.
Jhn lehrt ſie unendliche Vollkommenheiten
an den Menſchen entdecken, die ſeine Men-
ſchenliebe erwaͤrmen; mir ſtoßen mit iedem
Schritt vorwaͤrts, ſo viel neue, vorher un-
bemerkte Gebrechen und Maͤngel auf, die
mich ſo ausgekaͤltet haben, daß ich gar
nichts liebenswuͤrdiges mehr an den Men-
ſchen finde. Bey dieſen Abweichungen aber
ſind wir einander doch wieder in einem Stuͤck

vollkom-
D 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0057" n="57"/>
in un&#x017F;erm ganzen Benehmen zeigt &#x017F;ich, wie<lb/>
in un&#x017F;ern Grund&#x017F;a&#x0364;tzen, ein ma&#x0364;chtiger Un-<lb/>
ter&#x017F;chied. Er fliegt perpendikula&#x0364;r aufwa&#x0364;rts<lb/>
mit Gera&#x0364;u&#x017F;ch, wie ein Kun&#x017F;tfeuer, zeichnet<lb/>
einen langen Strahl hinter &#x017F;ich, dem der<lb/>
neugierige Po&#x0364;bel nachgaft und applaudirt;<lb/>
ich halte die Horizontallinie, &#x017F;chleiche un-<lb/>
bemerkt im Dunkeln fort, und An&#x017F;taunung<lb/>
und Maulauf&#x017F;perre ku&#x0364;mmert mich wenig.<lb/>
Jhn hat die Phy&#x017F;iognomik mitten auf den<lb/>
Schauplaz der Welt gezogen; mich hat &#x017F;ie<lb/>
aus der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft der Men&#x017F;chen geri&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Jhn lehrt &#x017F;ie unendliche Vollkommenheiten<lb/>
an den Men&#x017F;chen entdecken, die &#x017F;eine Men-<lb/>
&#x017F;chenliebe erwa&#x0364;rmen; mir &#x017F;toßen mit iedem<lb/>
Schritt vorwa&#x0364;rts, &#x017F;o viel neue, vorher un-<lb/>
bemerkte Gebrechen und Ma&#x0364;ngel auf, die<lb/>
mich &#x017F;o ausgeka&#x0364;ltet haben, daß ich gar<lb/>
nichts liebenswu&#x0364;rdiges mehr an den Men-<lb/>
&#x017F;chen finde. Bey die&#x017F;en Abweichungen aber<lb/>
&#x017F;ind wir einander doch wieder in einem Stu&#x0364;ck<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 5</fw><fw place="bottom" type="catch">vollkom-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0057] in unſerm ganzen Benehmen zeigt ſich, wie in unſern Grundſaͤtzen, ein maͤchtiger Un- terſchied. Er fliegt perpendikulaͤr aufwaͤrts mit Geraͤuſch, wie ein Kunſtfeuer, zeichnet einen langen Strahl hinter ſich, dem der neugierige Poͤbel nachgaft und applaudirt; ich halte die Horizontallinie, ſchleiche un- bemerkt im Dunkeln fort, und Anſtaunung und Maulaufſperre kuͤmmert mich wenig. Jhn hat die Phyſiognomik mitten auf den Schauplaz der Welt gezogen; mich hat ſie aus der Geſellſchaft der Menſchen geriſſen. Jhn lehrt ſie unendliche Vollkommenheiten an den Menſchen entdecken, die ſeine Men- ſchenliebe erwaͤrmen; mir ſtoßen mit iedem Schritt vorwaͤrts, ſo viel neue, vorher un- bemerkte Gebrechen und Maͤngel auf, die mich ſo ausgekaͤltet haben, daß ich gar nichts liebenswuͤrdiges mehr an den Men- ſchen finde. Bey dieſen Abweichungen aber ſind wir einander doch wieder in einem Stuͤck vollkom- D 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/57
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/57>, abgerufen am 21.11.2024.