selbst. Nur zuweilen kam es wie Furcht über sie. Vor nicht langer Zeit waren die schwarzen Pocken in ihrer Straße, ein großer Schreck fuhr in ihre Glieder, sie ließ sich aber schnell impfen und meinte nun wieder ruhig sein zu können. Als bald darauf die Cholera kam und in ihrer Nähe Jung und Alt dahinraffte, da ging das Bangen wieder an. So gut wie die sterben, kannst Du auch sterben, -- das sah sie ein, und sterben war ein schrecklicher Gedanke. Was wird dann aus ihr? ja was? Tante Rieke unterließ es nicht, in der Zeit vom Sterben zu reden und von der Strafe und vom ewigen Verderben. Klärchen hörte solche Worte nicht gern, sie ward bänger und bänger, und war doch wieder wie gebannt zu lauschen. Sie konnt' es nicht fassen, daß die Tante und Gretchen so ruhig waren und vom Tode redeten als von gar nichts Fürchterlichem; denn wenn sie des Nachts auf¬ wachte und so allein mit ihren Gedanken war, da befiel sie oft eine Angst, daß ihre Glieder bebten. Ob du wohl sterben mußt? dachte sie. Und was dann? Aber Gott sei Dank, die Zeit war vorüber, das Leben wieder rosenroth, Klärchen dachte nicht mehr an Tod und Gericht, und wenn die Tante jetzt von solchen Dingen redete, da hörte sie mit offenen Ohren nicht, sie senkte den Kopf auf die Arbeit, und ihre Gedanken gingen mit ihren tollsten Fantasien durch.
Als sie heut das Stübchen ihrer Mutter verlassen, ging sie einige Häuser weiter um eine Freundin abzuholen. Sie klopfte an ein niedriges Fenster parterre. Der Brief¬ träger Vogler trank eben Kaffee und las die Zeitung da¬ zu. Als er Klärchen sah, machte er das Fenster auf.
ſelbſt. Nur zuweilen kam es wie Furcht über ſie. Vor nicht langer Zeit waren die ſchwarzen Pocken in ihrer Straße, ein großer Schreck fuhr in ihre Glieder, ſie ließ ſich aber ſchnell impfen und meinte nun wieder ruhig ſein zu können. Als bald darauf die Cholera kam und in ihrer Nähe Jung und Alt dahinraffte, da ging das Bangen wieder an. So gut wie die ſterben, kannſt Du auch ſterben, — das ſah ſie ein, und ſterben war ein ſchrecklicher Gedanke. Was wird dann aus ihr? ja was? Tante Rieke unterließ es nicht, in der Zeit vom Sterben zu reden und von der Strafe und vom ewigen Verderben. Klärchen hörte ſolche Worte nicht gern, ſie ward bänger und bänger, und war doch wieder wie gebannt zu lauſchen. Sie konnt' es nicht faſſen, daß die Tante und Gretchen ſo ruhig waren und vom Tode redeten als von gar nichts Fürchterlichem; denn wenn ſie des Nachts auf¬ wachte und ſo allein mit ihren Gedanken war, da befiel ſie oft eine Angſt, daß ihre Glieder bebten. Ob du wohl ſterben mußt? dachte ſie. Und was dann? Aber Gott ſei Dank, die Zeit war vorüber, das Leben wieder roſenroth, Klärchen dachte nicht mehr an Tod und Gericht, und wenn die Tante jetzt von ſolchen Dingen redete, da hörte ſie mit offenen Ohren nicht, ſie ſenkte den Kopf auf die Arbeit, und ihre Gedanken gingen mit ihren tollſten Fantaſien durch.
Als ſie heut das Stübchen ihrer Mutter verlaſſen, ging ſie einige Häuſer weiter um eine Freundin abzuholen. Sie klopfte an ein niedriges Fenſter parterre. Der Brief¬ träger Vogler trank eben Kaffee und las die Zeitung da¬ zu. Als er Klärchen ſah, machte er das Fenſter auf.
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ſelbſt. Nur zuweilen kam es wie Furcht über ſie. Vor
nicht langer Zeit waren die ſchwarzen Pocken in ihrer
Straße, ein großer Schreck fuhr in ihre Glieder, ſie
ließ ſich aber ſchnell impfen und meinte nun wieder
ruhig ſein zu können. Als bald darauf die Cholera
kam und in ihrer Nähe Jung und Alt dahinraffte,
da ging das Bangen wieder an. So gut wie die
ſterben, kannſt Du auch ſterben, — das ſah ſie ein,
und ſterben war ein ſchrecklicher Gedanke. Was wird
dann aus ihr? ja was? Tante Rieke unterließ es
nicht, in der Zeit vom Sterben zu reden und von der
Strafe und vom ewigen Verderben. Klärchen hörte
ſolche Worte nicht gern, ſie ward bänger und bänger,
und war doch wieder wie gebannt zu lauſchen. Sie
konnt' es nicht faſſen, daß die Tante und Gretchen
ſo ruhig waren und vom Tode redeten als von gar
nichts Fürchterlichem; denn wenn ſie des Nachts auf¬
wachte und ſo allein mit ihren Gedanken war, da
befiel ſie oft eine Angſt, daß ihre Glieder bebten. Ob
du wohl ſterben mußt? dachte ſie. Und was dann?
Aber Gott ſei Dank, die Zeit war vorüber, das Leben
wieder roſenroth, Klärchen dachte nicht mehr an Tod
und Gericht, und wenn die Tante jetzt von ſolchen
Dingen redete, da hörte ſie mit offenen Ohren nicht,
ſie ſenkte den Kopf auf die Arbeit, und ihre Gedanken
gingen mit ihren tollſten Fantaſien durch.
Als ſie heut das Stübchen ihrer Mutter verlaſſen,
ging ſie einige Häuſer weiter um eine Freundin abzuholen.
Sie klopfte an ein niedriges Fenſter parterre. Der Brief¬
träger Vogler trank eben Kaffee und las die Zeitung da¬
zu. Als er Klärchen ſah, machte er das Fenſter auf.
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Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/18>, abgerufen am 16.07.2024.
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