Dingen oder an Menschen, um technische oder Handelsunter- nehmungen, um Kriegspläne, Gesetzentwürfe, Rechtssprüche oder um Werke der Dichtung oder Kunst, denn auch das ist nicht bloss Sache des Genies, sondern auch der redlichen Arbeit; die wahrhaft grossen Genies sind immer auch redliche Arbeiter gewesen.
In dem allen ist Wahrheit Pflicht, auch ganz abge- sehen von jeder Rücksicht auf den Nebenmenschen. Wir wären in Verlegenheit, wenn wir nach der gebräuchlichen Ein- teilung der Pflichten in solche gegen uns selbst und gegen den Nebenmenschen uns entscheiden sollten, in welche von beiden Klassen diese so weitreichende Pflicht der Sachlichkeit zu stellen sei. Jede sittliche Pflicht ohne Ausnahme ist Pflicht, nicht gegen, aber vor uns selbst, sofern das eigene sittliche Bewusstsein sie uns auferlegt; fragt man aber, worauf sie in der Ausübung sich erstrecke, so müsste man am Ende von Pflicht gegen die Sache reden, was denn doch etwas wunder- lich wäre. Diese ganze Einteilung fusst auf der unzulänglichen Vorstellung der sittlichen Verpflichtung als einer Verpflichtung auf Gegenseitigkeit. Ich bin, rein sittlich angesehen, über- haupt keiner Person verpflichtet, sondern allein dem sitt- lichen Gesetz. Erstrecken kann sich aber die Pflicht, der Materie nach, ebenso gut auf Sachen wie auf Personen, sofern irgend sie im Dienst sittlicher Aufgaben stehen.
Allerdings aber gilt nun eben dies in besonderer Weise von jeder willensfähigen Person, da jede auf eine solche sich erstreckende Handlung die Person zugleich als Sub- jekt und nicht bloss als Objekt des sittlichen Willens berührt. Und so gilt gewiss auch die Verpflichtung zur Wahrheit in besonderem Sinne gegenüber der andern Person und gegen- über der Gemeinschaft. Hier verdoppelt sich gleichsam die Verantwortlichkeit, die das Gebot der Wahrheit auferlegt; denn jede Verletzung beleidigt zweimal den heiligen Geist der Wahrheit, in der Person des Handelnden und dessen, auf den sich die Handlung erstreckt. Der Grund dieser Tugend wird dadurch zwar nicht berührt; die Unsittlichkeit der Lüge, das Verdienst der Wahrhaftigkeit wird nicht grösser dadurch, dass
Dingen oder an Menschen, um technische oder Handelsunter- nehmungen, um Kriegspläne, Gesetzentwürfe, Rechtssprüche oder um Werke der Dichtung oder Kunst, denn auch das ist nicht bloss Sache des Genies, sondern auch der redlichen Arbeit; die wahrhaft grossen Genies sind immer auch redliche Arbeiter gewesen.
In dem allen ist Wahrheit Pflicht, auch ganz abge- sehen von jeder Rücksicht auf den Nebenmenschen. Wir wären in Verlegenheit, wenn wir nach der gebräuchlichen Ein- teilung der Pflichten in solche gegen uns selbst und gegen den Nebenmenschen uns entscheiden sollten, in welche von beiden Klassen diese so weitreichende Pflicht der Sachlichkeit zu stellen sei. Jede sittliche Pflicht ohne Ausnahme ist Pflicht, nicht gegen, aber vor uns selbst, sofern das eigene sittliche Bewusstsein sie uns auferlegt; fragt man aber, worauf sie in der Ausübung sich erstrecke, so müsste man am Ende von Pflicht gegen die Sache reden, was denn doch etwas wunder- lich wäre. Diese ganze Einteilung fusst auf der unzulänglichen Vorstellung der sittlichen Verpflichtung als einer Verpflichtung auf Gegenseitigkeit. Ich bin, rein sittlich angesehen, über- haupt keiner Person verpflichtet, sondern allein dem sitt- lichen Gesetz. Erstrecken kann sich aber die Pflicht, der Materie nach, ebenso gut auf Sachen wie auf Personen, sofern irgend sie im Dienst sittlicher Aufgaben stehen.
Allerdings aber gilt nun eben dies in besonderer Weise von jeder willensfähigen Person, da jede auf eine solche sich erstreckende Handlung die Person zugleich als Sub- jekt und nicht bloss als Objekt des sittlichen Willens berührt. Und so gilt gewiss auch die Verpflichtung zur Wahrheit in besonderem Sinne gegenüber der andern Person und gegen- über der Gemeinschaft. Hier verdoppelt sich gleichsam die Verantwortlichkeit, die das Gebot der Wahrheit auferlegt; denn jede Verletzung beleidigt zweimal den heiligen Geist der Wahrheit, in der Person des Handelnden und dessen, auf den sich die Handlung erstreckt. Der Grund dieser Tugend wird dadurch zwar nicht berührt; die Unsittlichkeit der Lüge, das Verdienst der Wahrhaftigkeit wird nicht grösser dadurch, dass
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Dingen oder an Menschen, um technische oder Handelsunter-
nehmungen, um Kriegspläne, Gesetzentwürfe, Rechtssprüche
oder um Werke der Dichtung oder Kunst, denn auch das ist
nicht bloss Sache des Genies, sondern auch der redlichen
Arbeit; die wahrhaft grossen Genies sind immer auch redliche
Arbeiter gewesen.
In dem allen ist Wahrheit Pflicht, auch ganz abge-
sehen von jeder Rücksicht auf den Nebenmenschen. Wir
wären in Verlegenheit, wenn wir nach der gebräuchlichen Ein-
teilung der Pflichten in solche gegen uns selbst und gegen
den Nebenmenschen uns entscheiden sollten, in welche von
beiden Klassen diese so weitreichende Pflicht der Sachlichkeit
zu stellen sei. Jede sittliche Pflicht ohne Ausnahme ist Pflicht,
nicht gegen, aber vor uns selbst, sofern das eigene sittliche
Bewusstsein sie uns auferlegt; fragt man aber, worauf sie in
der Ausübung sich erstrecke, so müsste man am Ende von
Pflicht gegen die Sache reden, was denn doch etwas wunder-
lich wäre. Diese ganze Einteilung fusst auf der unzulänglichen
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auf Gegenseitigkeit. Ich bin, rein sittlich angesehen, über-
haupt keiner Person verpflichtet, sondern allein dem sitt-
lichen Gesetz. Erstrecken kann sich aber die Pflicht, der
Materie nach, ebenso gut auf Sachen wie auf Personen, sofern
irgend sie im Dienst sittlicher Aufgaben stehen.
Allerdings aber gilt nun eben dies in besonderer
Weise von jeder willensfähigen Person, da jede auf eine solche
sich erstreckende Handlung die Person zugleich als Sub-
jekt und nicht bloss als Objekt des sittlichen Willens berührt.
Und so gilt gewiss auch die Verpflichtung zur Wahrheit in
besonderem Sinne gegenüber der andern Person und gegen-
über der Gemeinschaft. Hier verdoppelt sich gleichsam die
Verantwortlichkeit, die das Gebot der Wahrheit auferlegt;
denn jede Verletzung beleidigt zweimal den heiligen Geist der
Wahrheit, in der Person des Handelnden und dessen, auf den
sich die Handlung erstreckt. Der Grund dieser Tugend wird
dadurch zwar nicht berührt; die Unsittlichkeit der Lüge, das
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/114>, abgerufen am 24.11.2024.
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