Somit stellt diese Tugend, auf der Grundlage der beiden andern, die Vollendung der persönlichen Sittlichkeit dar. Sie ist die konkreteste der drei Tugenden; es ist darin das Ideal gedacht, dass die Triebe selbst dem Befehle der Vernunft so völlig gehorchen, vielmehr von Anfang an einerlei Richtung mit ihr nehmen, dass eine gefahrdrohende Anwandlung von Schlechtigkeit nicht mehr möglich ist. Der religiöse Name der Heiligung liegt nahe und lässt sich in einzelnen An- wendungen kaum umgehen; nur möchten wir die religiösen Assoziationen fernhalten, um den rein ethischen Charakter der Untersuchung in keiner Weise zu verwischen.
Auch diese Tugend hat eine negative und eine positive Seite, und bei ihr wie bei der Tapferkeit drängt sich die ne- gative oder kritische Bedeutung -- Abwehr der ubris -- zunächst auf; aber auch bei ihr ist vor der einseitig negativen Auf- fassung zu warnen. Die egkrateia der Griechen, die Selbst- beherrschung, die Eigenschaft sich in der Gewalt zu haben, d. h. seiner Triebe Herr, nicht ihr Sklave zu sein, sie mässigen oder zügeln zu können, gilt wohl den Meisten als der eigentliche und ganze Sinn dieser Tugend. Das steigert man dann leicht zu der Forderung der Enthaltung, der Ent- äusserung, der Ertötung oder doch möglichsten Abschwächung der Triebe. Es ist die Tugend der Kyniker und ihrer christ- lichen Nachfolger, der Asketen aller Art: die Begehrungen möglichst klein zu halten; bei den erstern mit der ausgesprochen hedonistischen Begründung, damit man sie desto sicherer be- friedigen könne; so dass als das eigentliche Ideal völlige Be- dürfnislosigkeit erscheint. Aber gesunde Befriedigung des Triebs ist an sich so sittlich, so rein, so heilig wie die Ent- haltung von ungesunder Befriedigung. Die Gesundheit des Trieblebens ist so wenig davon abhängig, dass man die Triebe selbst möglichst knapp hält, also das Triebleben überhaupt möglichst ertöte, dass vielmehr eben die Gesundheit des Trieb- lebens die Bedingung seiner kraftvollsten und lebensfähigsten Entfaltung ist. Die Asketik ist ein unfehlbarer Arzt -- nur dass sie mit der Krankheit zugleich dem Patienten den Garaus macht. Gewiss ist "Selbstbeherrschung", d. i. Beherr-
Somit stellt diese Tugend, auf der Grundlage der beiden andern, die Vollendung der persönlichen Sittlichkeit dar. Sie ist die konkreteste der drei Tugenden; es ist darin das Ideal gedacht, dass die Triebe selbst dem Befehle der Vernunft so völlig gehorchen, vielmehr von Anfang an einerlei Richtung mit ihr nehmen, dass eine gefahrdrohende Anwandlung von Schlechtigkeit nicht mehr möglich ist. Der religiöse Name der Heiligung liegt nahe und lässt sich in einzelnen An- wendungen kaum umgehen; nur möchten wir die religiösen Assoziationen fernhalten, um den rein ethischen Charakter der Untersuchung in keiner Weise zu verwischen.
Auch diese Tugend hat eine negative und eine positive Seite, und bei ihr wie bei der Tapferkeit drängt sich die ne- gative oder kritische Bedeutung — Abwehr der ὕβϱις — zunächst auf; aber auch bei ihr ist vor der einseitig negativen Auf- fassung zu warnen. Die ἐγκϱάτεια der Griechen, die Selbst- beherrschung, die Eigenschaft sich in der Gewalt zu haben, d. h. seiner Triebe Herr, nicht ihr Sklave zu sein, sie mässigen oder zügeln zu können, gilt wohl den Meisten als der eigentliche und ganze Sinn dieser Tugend. Das steigert man dann leicht zu der Forderung der Enthaltung, der Ent- äusserung, der Ertötung oder doch möglichsten Abschwächung der Triebe. Es ist die Tugend der Kyniker und ihrer christ- lichen Nachfolger, der Asketen aller Art: die Begehrungen möglichst klein zu halten; bei den erstern mit der ausgesprochen hedonistischen Begründung, damit man sie desto sicherer be- friedigen könne; so dass als das eigentliche Ideal völlige Be- dürfnislosigkeit erscheint. Aber gesunde Befriedigung des Triebs ist an sich so sittlich, so rein, so heilig wie die Ent- haltung von ungesunder Befriedigung. Die Gesundheit des Trieblebens ist so wenig davon abhängig, dass man die Triebe selbst möglichst knapp hält, also das Triebleben überhaupt möglichst ertöte, dass vielmehr eben die Gesundheit des Trieb- lebens die Bedingung seiner kraftvollsten und lebensfähigsten Entfaltung ist. Die Asketik ist ein unfehlbarer Arzt — nur dass sie mit der Krankheit zugleich dem Patienten den Garaus macht. Gewiss ist „Selbstbeherrschung“, d. i. Beherr-
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Somit stellt diese Tugend, auf der Grundlage der beiden
andern, die Vollendung der persönlichen Sittlichkeit dar. Sie
ist die konkreteste der drei Tugenden; es ist darin das Ideal
gedacht, dass die Triebe selbst dem Befehle der Vernunft so
völlig gehorchen, vielmehr von Anfang an einerlei Richtung
mit ihr nehmen, dass eine gefahrdrohende Anwandlung von
Schlechtigkeit nicht mehr möglich ist. Der religiöse Name
der Heiligung liegt nahe und lässt sich in einzelnen An-
wendungen kaum umgehen; nur möchten wir die religiösen
Assoziationen fernhalten, um den rein ethischen Charakter der
Untersuchung in keiner Weise zu verwischen.
Auch diese Tugend hat eine negative und eine positive
Seite, und bei ihr wie bei der Tapferkeit drängt sich die ne-
gative oder kritische Bedeutung — Abwehr der ὕβϱις — zunächst
auf; aber auch bei ihr ist vor der einseitig negativen Auf-
fassung zu warnen. Die ἐγκϱάτεια der Griechen, die Selbst-
beherrschung, die Eigenschaft sich in der Gewalt zu haben,
d. h. seiner Triebe Herr, nicht ihr Sklave zu sein, sie
mässigen oder zügeln zu können, gilt wohl den Meisten als
der eigentliche und ganze Sinn dieser Tugend. Das steigert
man dann leicht zu der Forderung der Enthaltung, der Ent-
äusserung, der Ertötung oder doch möglichsten Abschwächung
der Triebe. Es ist die Tugend der Kyniker und ihrer christ-
lichen Nachfolger, der Asketen aller Art: die Begehrungen
möglichst klein zu halten; bei den erstern mit der ausgesprochen
hedonistischen Begründung, damit man sie desto sicherer be-
friedigen könne; so dass als das eigentliche Ideal völlige Be-
dürfnislosigkeit erscheint. Aber gesunde Befriedigung des
Triebs ist an sich so sittlich, so rein, so heilig wie die Ent-
haltung von ungesunder Befriedigung. Die Gesundheit des
Trieblebens ist so wenig davon abhängig, dass man die Triebe
selbst möglichst knapp hält, also das Triebleben überhaupt
möglichst ertöte, dass vielmehr eben die Gesundheit des Trieb-
lebens die Bedingung seiner kraftvollsten und lebensfähigsten
Entfaltung ist. Die Asketik ist ein unfehlbarer Arzt —
nur dass sie mit der Krankheit zugleich dem Patienten den
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/127>, abgerufen am 25.11.2024.
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