Die vorliegende Schrift versucht auf eine der am meisten zentralen Fragen unsrer Zeit begründete Antwort zu geben, indem sie die Wechselbeziehungen zwischen Erziehung und Gemeinschaft sich zum Problem macht. Sie betrachtet die Erziehung, deren Kern sie in der Erziehung des Willens sieht, als bedingt durch das Leben der Gemeinschaft und wiederum bedingend für dessen Gestaltung. Dadurch fällt eine vielfach neue Beleuchtung gleichzeitig auf die Thatsachen der Erziehung im weitesten Sinne und auf die Thatsachen des sozialen Lebens, das unter diesem Gesichtspunkt als ein grosser Organismus zur Menschenbildung sich darstellt.
Indem also zwei sonst getrennte Wissenschaften, Gesell- schaftslehre und Erziehungslehre, nicht bloss äusserlich aneinander zu bringen, sondern als in der tiefsten Wurzel eins und untrennbar zusammengehörig zu erweisen waren, wurde es notwendig, bis zu den philosophischen Gründen beider zurückzugehen. Ein deduktiver Aufbau musste gewagt werden. Nach dem gegenwärtigen Stande der Philosophie muss ich darauf gefasst sein, dass er manchem in der That nur gewagt erscheinen, dass die zwingende Kraft meiner Beweisführung nicht allen gleichermaassen überzeugend sein wird; ja dass manche, denen es mehr auf fruchtbare Resultate ankommt, die ganze Mühe dieser Deduktion mir gern erlassen, und dafür ein noch konkreteres Eingehen in unmittelbar praktische Fragen lieber gesehen hätten. Diesen kann ich nur antworten, dass ich für meine Aufgabe genau das zu leisten hatte, was ich als Philosoph zu leisten gerüstet war. Uebrigens wird man nicht verkennen, dass Mühe genug daran gewendet
Vorwort.
Die vorliegende Schrift versucht auf eine der am meisten zentralen Fragen unsrer Zeit begründete Antwort zu geben, indem sie die Wechselbeziehungen zwischen Erziehung und Gemeinschaft sich zum Problem macht. Sie betrachtet die Erziehung, deren Kern sie in der Erziehung des Willens sieht, als bedingt durch das Leben der Gemeinschaft und wiederum bedingend für dessen Gestaltung. Dadurch fällt eine vielfach neue Beleuchtung gleichzeitig auf die Thatsachen der Erziehung im weitesten Sinne und auf die Thatsachen des sozialen Lebens, das unter diesem Gesichtspunkt als ein grosser Organismus zur Menschenbildung sich darstellt.
Indem also zwei sonst getrennte Wissenschaften, Gesell- schaftslehre und Erziehungslehre, nicht bloss äusserlich aneinander zu bringen, sondern als in der tiefsten Wurzel eins und untrennbar zusammengehörig zu erweisen waren, wurde es notwendig, bis zu den philosophischen Gründen beider zurückzugehen. Ein deduktiver Aufbau musste gewagt werden. Nach dem gegenwärtigen Stande der Philosophie muss ich darauf gefasst sein, dass er manchem in der That nur gewagt erscheinen, dass die zwingende Kraft meiner Beweisführung nicht allen gleichermaassen überzeugend sein wird; ja dass manche, denen es mehr auf fruchtbare Resultate ankommt, die ganze Mühe dieser Deduktion mir gern erlassen, und dafür ein noch konkreteres Eingehen in unmittelbar praktische Fragen lieber gesehen hätten. Diesen kann ich nur antworten, dass ich für meine Aufgabe genau das zu leisten hatte, was ich als Philosoph zu leisten gerüstet war. Uebrigens wird man nicht verkennen, dass Mühe genug daran gewendet
<TEI><text><front><pbfacs="#f0013"n="[V]"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Vorwort</hi>.</hi></head><lb/><p>Die vorliegende Schrift versucht auf eine der am meisten<lb/>
zentralen Fragen unsrer Zeit begründete Antwort zu geben,<lb/>
indem sie die <hirendition="#g">Wechselbeziehungen zwischen Erziehung<lb/>
und Gemeinschaft</hi> sich zum Problem macht. Sie betrachtet<lb/>
die Erziehung, deren Kern sie in der Erziehung des Willens<lb/>
sieht, als bedingt durch das Leben der Gemeinschaft und<lb/>
wiederum bedingend für dessen Gestaltung. Dadurch fällt eine<lb/>
vielfach neue Beleuchtung gleichzeitig auf die Thatsachen der<lb/>
Erziehung im weitesten Sinne und auf die Thatsachen des<lb/>
sozialen Lebens, das unter diesem Gesichtspunkt als <hirendition="#g">ein</hi><lb/>
grosser Organismus zur Menschenbildung sich darstellt.</p><lb/><p>Indem also zwei sonst getrennte Wissenschaften, <hirendition="#g">Gesell-<lb/>
schaftslehre</hi> und <hirendition="#g">Erziehungslehre</hi>, nicht bloss äusserlich<lb/>
aneinander zu bringen, sondern als in der tiefsten Wurzel eins<lb/>
und untrennbar zusammengehörig zu erweisen waren, wurde<lb/>
es notwendig, bis zu den <hirendition="#g">philosophischen Gründen beider</hi><lb/>
zurückzugehen. Ein deduktiver Aufbau musste gewagt werden.<lb/>
Nach dem gegenwärtigen Stande der Philosophie muss ich<lb/>
darauf gefasst sein, dass er manchem in der That nur gewagt<lb/>
erscheinen, dass die zwingende Kraft meiner Beweisführung<lb/>
nicht allen gleichermaassen überzeugend sein wird; ja dass<lb/>
manche, denen es mehr auf fruchtbare Resultate ankommt,<lb/>
die ganze Mühe dieser Deduktion mir gern erlassen, und dafür<lb/>
ein noch konkreteres Eingehen in unmittelbar praktische<lb/>
Fragen lieber gesehen hätten. Diesen kann ich nur antworten,<lb/>
dass ich für meine Aufgabe genau das zu leisten hatte,<lb/>
was ich als Philosoph zu leisten gerüstet war. Uebrigens<lb/>
wird man nicht verkennen, dass Mühe genug daran gewendet<lb/></p></div></front></text></TEI>
[[V]/0013]
Vorwort.
Die vorliegende Schrift versucht auf eine der am meisten
zentralen Fragen unsrer Zeit begründete Antwort zu geben,
indem sie die Wechselbeziehungen zwischen Erziehung
und Gemeinschaft sich zum Problem macht. Sie betrachtet
die Erziehung, deren Kern sie in der Erziehung des Willens
sieht, als bedingt durch das Leben der Gemeinschaft und
wiederum bedingend für dessen Gestaltung. Dadurch fällt eine
vielfach neue Beleuchtung gleichzeitig auf die Thatsachen der
Erziehung im weitesten Sinne und auf die Thatsachen des
sozialen Lebens, das unter diesem Gesichtspunkt als ein
grosser Organismus zur Menschenbildung sich darstellt.
Indem also zwei sonst getrennte Wissenschaften, Gesell-
schaftslehre und Erziehungslehre, nicht bloss äusserlich
aneinander zu bringen, sondern als in der tiefsten Wurzel eins
und untrennbar zusammengehörig zu erweisen waren, wurde
es notwendig, bis zu den philosophischen Gründen beider
zurückzugehen. Ein deduktiver Aufbau musste gewagt werden.
Nach dem gegenwärtigen Stande der Philosophie muss ich
darauf gefasst sein, dass er manchem in der That nur gewagt
erscheinen, dass die zwingende Kraft meiner Beweisführung
nicht allen gleichermaassen überzeugend sein wird; ja dass
manche, denen es mehr auf fruchtbare Resultate ankommt,
die ganze Mühe dieser Deduktion mir gern erlassen, und dafür
ein noch konkreteres Eingehen in unmittelbar praktische
Fragen lieber gesehen hätten. Diesen kann ich nur antworten,
dass ich für meine Aufgabe genau das zu leisten hatte,
was ich als Philosoph zu leisten gerüstet war. Uebrigens
wird man nicht verkennen, dass Mühe genug daran gewendet
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/13>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.