zum Gebiete dessen, was der Herrschaft sittlicher Vernunft und sittlichen Willens unterworfen werden muss, nicht sie be- stimmen darf. Sympathie und Antipathie ist, so unüberwind- lich vielleicht im Moment, doch an sich wandelbar, also lenk- bar. Man kann vielleicht nicht umhin sie augenblicklich zu haben oder nicht zu haben, aber wohl haben Einsicht und Wille Einfluss darauf sie zu behalten oder davon frei zu werden, sie zu stärken oder zu mässigen, sie zum Guten zu lenken und nicht zum Bösen. Jeder Naturtrieb hat zuletzt irgend etwas Gutes oder wenigstens Unschuldiges zum Ziel: ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst; allein so lange nur der dunkle Drang zu Worte kommt, kann man nicht wissen, ob er eines guten Menschen ist oder nicht, ob er also instinktiv auf den rechten Weg leiten wird oder auf den verkehrten. Er bedarf also jedenfalls der Regelung, der Ordnung, der Reinigung. Ge- rechtigkeit zielt auf Reinheit unseres Verhältnisses der Sym- pathie und Antipathie zum Andern. Leidenschaftlicher, über- haupt blinder Hass, nicht minder blinde Liebe verfällt unrett- bar in Ungerechtigkeit; und dasselbe gilt von jedem nicht oder verkehrt geregelten Zustand des Trieblebens.
Hierher gehört auch die ethisch interessante Frage nach dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Spricht man von blinder Liebe, so setzt man voraus, dass es auch eine sehende giebt; diese kann wohl nicht allzu weit abliegen von der Gerechtigkeit. So nennt Leibniz die Gerechtigkeit die Liebe des Weisen. Das kann sagen, dass für den Weisen die Gerechtigkeit die Stelle der Liebe (die eigentlich unweise sei) vertreten müsse; aber es schliesst doch wohl ein, dass die höchste Gerechtigkeit auch Liebe, und die höchste Liebe Ge- rechtigkeit sei. Soll Liebe der höchste Ausdruck gegenseitiger Sittlichkeit sein, so muss sie offenbar besagen den unerschütter- lichen Willen zur Gemeinschaft. Dann ist die höchste Liebe die, welche die Gemeinschaft im höchsten, d. i. im sitt- lichen Sinne will; die sittliche Tugend der Gemeinschaft aber ist die Gerechtigkeit.
Aber damit erhielten wir eben nur einen neuen Namen
zum Gebiete dessen, was der Herrschaft sittlicher Vernunft und sittlichen Willens unterworfen werden muss, nicht sie be- stimmen darf. Sympathie und Antipathie ist, so unüberwind- lich vielleicht im Moment, doch an sich wandelbar, also lenk- bar. Man kann vielleicht nicht umhin sie augenblicklich zu haben oder nicht zu haben, aber wohl haben Einsicht und Wille Einfluss darauf sie zu behalten oder davon frei zu werden, sie zu stärken oder zu mässigen, sie zum Guten zu lenken und nicht zum Bösen. Jeder Naturtrieb hat zuletzt irgend etwas Gutes oder wenigstens Unschuldiges zum Ziel: ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst; allein so lange nur der dunkle Drang zu Worte kommt, kann man nicht wissen, ob er eines guten Menschen ist oder nicht, ob er also instinktiv auf den rechten Weg leiten wird oder auf den verkehrten. Er bedarf also jedenfalls der Regelung, der Ordnung, der Reinigung. Ge- rechtigkeit zielt auf Reinheit unseres Verhältnisses der Sym- pathie und Antipathie zum Andern. Leidenschaftlicher, über- haupt blinder Hass, nicht minder blinde Liebe verfällt unrett- bar in Ungerechtigkeit; und dasselbe gilt von jedem nicht oder verkehrt geregelten Zustand des Trieblebens.
Hierher gehört auch die ethisch interessante Frage nach dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Spricht man von blinder Liebe, so setzt man voraus, dass es auch eine sehende giebt; diese kann wohl nicht allzu weit abliegen von der Gerechtigkeit. So nennt Leibniz die Gerechtigkeit die Liebe des Weisen. Das kann sagen, dass für den Weisen die Gerechtigkeit die Stelle der Liebe (die eigentlich unweise sei) vertreten müsse; aber es schliesst doch wohl ein, dass die höchste Gerechtigkeit auch Liebe, und die höchste Liebe Ge- rechtigkeit sei. Soll Liebe der höchste Ausdruck gegenseitiger Sittlichkeit sein, so muss sie offenbar besagen den unerschütter- lichen Willen zur Gemeinschaft. Dann ist die höchste Liebe die, welche die Gemeinschaft im höchsten, d. i. im sitt- lichen Sinne will; die sittliche Tugend der Gemeinschaft aber ist die Gerechtigkeit.
Aber damit erhielten wir eben nur einen neuen Namen
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zum Gebiete dessen, was der Herrschaft sittlicher Vernunft
und sittlichen Willens unterworfen werden muss, nicht sie be-
stimmen darf. Sympathie und Antipathie ist, so unüberwind-
lich vielleicht im Moment, doch an sich wandelbar, also lenk-
bar. Man kann vielleicht nicht umhin sie augenblicklich zu
haben oder nicht zu haben, aber wohl haben Einsicht und
Wille Einfluss darauf sie zu behalten oder davon frei zu
werden, sie zu stärken oder zu mässigen, sie zum Guten zu
lenken und nicht zum Bösen. Jeder Naturtrieb hat zuletzt
irgend etwas Gutes oder wenigstens Unschuldiges zum Ziel:
ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten
Weges wohl bewusst; allein so lange nur der dunkle Drang
zu Worte kommt, kann man nicht wissen, ob er eines guten
Menschen ist oder nicht, ob er also instinktiv auf den rechten
Weg leiten wird oder auf den verkehrten. Er bedarf also
jedenfalls der Regelung, der Ordnung, der Reinigung. Ge-
rechtigkeit zielt auf Reinheit unseres Verhältnisses der Sym-
pathie und Antipathie zum Andern. Leidenschaftlicher, über-
haupt blinder Hass, nicht minder blinde Liebe verfällt unrett-
bar in Ungerechtigkeit; und dasselbe gilt von jedem nicht oder
verkehrt geregelten Zustand des Trieblebens.
Hierher gehört auch die ethisch interessante Frage nach
dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Spricht
man von blinder Liebe, so setzt man voraus, dass es auch
eine sehende giebt; diese kann wohl nicht allzu weit abliegen
von der Gerechtigkeit. So nennt Leibniz die Gerechtigkeit
die Liebe des Weisen. Das kann sagen, dass für den Weisen
die Gerechtigkeit die Stelle der Liebe (die eigentlich unweise
sei) vertreten müsse; aber es schliesst doch wohl ein, dass die
höchste Gerechtigkeit auch Liebe, und die höchste Liebe Ge-
rechtigkeit sei. Soll Liebe der höchste Ausdruck gegenseitiger
Sittlichkeit sein, so muss sie offenbar besagen den unerschütter-
lichen Willen zur Gemeinschaft. Dann ist die höchste
Liebe die, welche die Gemeinschaft im höchsten, d. i. im sitt-
lichen Sinne will; die sittliche Tugend der Gemeinschaft aber
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/143>, abgerufen am 26.11.2024.
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