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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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leben der Wille im Unterschied vom Trieb eine neue "Einheit
der Bestimmungsgründe
" besagt, und dadurch zuerst
der Gegenstand einer neuen, nämlich der praktischen Er-
kenntnis
konstituiert wird (vgl. § 8), so begründet sich im
sozialen Leben auf die erklärte Art "die Möglichkeit einer
neuen Einheit unter den Bestimmungsgründen menschlichen
Verhaltens gegen einander, und dadurch eines besonderen und
eigenen Gegenstandes unserer Erkenntnis"*), nämlich des
Gegenstands der sozialen Erkenntnis. Fortan bleibt es nicht
"dem blossen Augenblickstriebe überlassen", wie man sich
gegen einander verhalte, sondern man will "über die nicht
übersehbaren Einfälle des natürlichen tierischen Trieblebens
des Einzelnen hinaus eine Garantie einsetzen und bestimmen,
wie es von nun ab gehalten werden soll".**) Zwar ist ein
bloss triebartiges Zusammenwirken (wie in den sogenannten
Tierstaaten) auch denkbar, und nichts würde grundsätzlich
verbieten, in solchem etwa die genetische Vorstufe mensch-
lichen Soziallebens zu sehen. Aber ein menschliches Zu-
sammenleben wird erst konstituiert durch einen erklärten
Willen der Gemeinschaft, im eben umschriebenen Sinn.

Inwiefern ist man denn berechtigt von einem Willen der
Gemeinschaft hier zu reden, da es doch der "Wille aller"
(einzeln genommen) kaum jemals ist, der darin zum Ausspruch
kommt? Darauf ist zu antworten: es genügt, dass er für die
Gemeinschaft, d. i. mit allgemeiner und gleicher Ver-
bindlichkeit
für jedes ihr angehörende Glied zu gelten be-
ansprucht, oder vielmehr, seinem formulierten Inhalt nach, gilt.
Zum Begriff eines Willens der Gemeinschaft ist ausreichend,
dass eine bestimmte Verhaltungsweise maassgeblich festgesetzt
sei; erforderlich ist keineswegs, dass auf keiner Seite ein
Widerspruch der blossen Triebrichtung oder auch vereinzelten
Wollens dagegen obwalte. Der formale Charakter des Wollens
liegt präzis nur darin, dass man weiss, was man will, d. h.
dass, was zu thun oder zu lassen sei, in einziger Weise
bestimmt
sei. Die Festsetzung kann material sehr verfehlt
sein und auch von Einzelnen als verfehlt erkannt werden, so

*) Stammler S. 106.
**) Stammler S. 113.

leben der Wille im Unterschied vom Trieb eine neue „Einheit
der Bestimmungsgründe
“ besagt, und dadurch zuerst
der Gegenstand einer neuen, nämlich der praktischen Er-
kenntnis
konstituiert wird (vgl. § 8), so begründet sich im
sozialen Leben auf die erklärte Art „die Möglichkeit einer
neuen Einheit unter den Bestimmungsgründen menschlichen
Verhaltens gegen einander, und dadurch eines besonderen und
eigenen Gegenstandes unserer Erkenntnis“*), nämlich des
Gegenstands der sozialen Erkenntnis. Fortan bleibt es nicht
„dem blossen Augenblickstriebe überlassen“, wie man sich
gegen einander verhalte, sondern man will „über die nicht
übersehbaren Einfälle des natürlichen tierischen Trieblebens
des Einzelnen hinaus eine Garantie einsetzen und bestimmen,
wie es von nun ab gehalten werden soll“.**) Zwar ist ein
bloss triebartiges Zusammenwirken (wie in den sogenannten
Tierstaaten) auch denkbar, und nichts würde grundsätzlich
verbieten, in solchem etwa die genetische Vorstufe mensch-
lichen Soziallebens zu sehen. Aber ein menschliches Zu-
sammenleben wird erst konstituiert durch einen erklärten
Willen der Gemeinschaft, im eben umschriebenen Sinn.

Inwiefern ist man denn berechtigt von einem Willen der
Gemeinschaft hier zu reden, da es doch der „Wille aller“
(einzeln genommen) kaum jemals ist, der darin zum Ausspruch
kommt? Darauf ist zu antworten: es genügt, dass er für die
Gemeinschaft, d. i. mit allgemeiner und gleicher Ver-
bindlichkeit
für jedes ihr angehörende Glied zu gelten be-
ansprucht, oder vielmehr, seinem formulierten Inhalt nach, gilt.
Zum Begriff eines Willens der Gemeinschaft ist ausreichend,
dass eine bestimmte Verhaltungsweise maassgeblich festgesetzt
sei; erforderlich ist keineswegs, dass auf keiner Seite ein
Widerspruch der blossen Triebrichtung oder auch vereinzelten
Wollens dagegen obwalte. Der formale Charakter des Wollens
liegt präzis nur darin, dass man weiss, was man will, d. h.
dass, was zu thun oder zu lassen sei, in einziger Weise
bestimmt
sei. Die Festsetzung kann material sehr verfehlt
sein und auch von Einzelnen als verfehlt erkannt werden, so

*) Stammler S. 106.
**) Stammler S. 113.
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[142/0158] leben der Wille im Unterschied vom Trieb eine neue „Einheit der Bestimmungsgründe“ besagt, und dadurch zuerst der Gegenstand einer neuen, nämlich der praktischen Er- kenntnis konstituiert wird (vgl. § 8), so begründet sich im sozialen Leben auf die erklärte Art „die Möglichkeit einer neuen Einheit unter den Bestimmungsgründen menschlichen Verhaltens gegen einander, und dadurch eines besonderen und eigenen Gegenstandes unserer Erkenntnis“ *), nämlich des Gegenstands der sozialen Erkenntnis. Fortan bleibt es nicht „dem blossen Augenblickstriebe überlassen“, wie man sich gegen einander verhalte, sondern man will „über die nicht übersehbaren Einfälle des natürlichen tierischen Trieblebens des Einzelnen hinaus eine Garantie einsetzen und bestimmen, wie es von nun ab gehalten werden soll“. **) Zwar ist ein bloss triebartiges Zusammenwirken (wie in den sogenannten Tierstaaten) auch denkbar, und nichts würde grundsätzlich verbieten, in solchem etwa die genetische Vorstufe mensch- lichen Soziallebens zu sehen. Aber ein menschliches Zu- sammenleben wird erst konstituiert durch einen erklärten Willen der Gemeinschaft, im eben umschriebenen Sinn. Inwiefern ist man denn berechtigt von einem Willen der Gemeinschaft hier zu reden, da es doch der „Wille aller“ (einzeln genommen) kaum jemals ist, der darin zum Ausspruch kommt? Darauf ist zu antworten: es genügt, dass er für die Gemeinschaft, d. i. mit allgemeiner und gleicher Ver- bindlichkeit für jedes ihr angehörende Glied zu gelten be- ansprucht, oder vielmehr, seinem formulierten Inhalt nach, gilt. Zum Begriff eines Willens der Gemeinschaft ist ausreichend, dass eine bestimmte Verhaltungsweise maassgeblich festgesetzt sei; erforderlich ist keineswegs, dass auf keiner Seite ein Widerspruch der blossen Triebrichtung oder auch vereinzelten Wollens dagegen obwalte. Der formale Charakter des Wollens liegt präzis nur darin, dass man weiss, was man will, d. h. dass, was zu thun oder zu lassen sei, in einziger Weise bestimmt sei. Die Festsetzung kann material sehr verfehlt sein und auch von Einzelnen als verfehlt erkannt werden, so *) Stammler S. 106. **) Stammler S. 113.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/158>, abgerufen am 28.11.2024.