in derjenigen letzten, freilich erst recht bloss formalen Ein- heit, in die alles Wollen und dadurch auch die ganze zu regelnde Materie der menschlichen Triebe in strenger Gesetz- lichkeit sich fügen soll. Die reine Form der Gesetzlichkeit also, als ausschliessender, in letzter Instanz maassgeblicher Be- stimmungsgrund, ist es, die das Gebot der praktischen Ver- nunft von der blossen empirischen Regel einzelnen beschränkten Wollens unterscheidet. Ihr Gesetz gilt unterschiedslos für soziale wie individuale Willensregelung. Denn es erstreckt sich, seinem Begriff zufolge, auf das menschliche Leben in seiner Totalität, also muss es auch das Gemeinschaftsleben nach seinem ganzen Umfang umspannen. Zwar das sittliche Wollen selbst bleibt immer individual, weil autonom; es ruht in seiner verpflichtenden Kraft nicht, wie die äussere, hetero- nome Regel des Rechts, auf gegenseitiger Bindung, auf der Bedingung eines entsprechenden Verhaltens des Andern*); aber es erstreckt sich darum nicht minder, seinem Inhalt nach, auf das soziale Leben und stellt auch seine letztbeherrschende Gesetzgebung dar.
Nun geht das Vernunftgesetz aber, seinem Inhalt nach, ganz über Erfahrung hinaus; inwiefern vermag es gleichwohl sich in gegebener Gemeinschaft thatsächlich Ausdruck zu ver- schaffen? Nur insofern im Leben der Gemeinschaft und infolge der Gemeinschaft sich eine Tendenz bildet und mit steigender Bewusstheit des sozialen Lebens steigert, das soziale Leben bewusst in der Richtung jener formalen Einheit zu gestalten; das Vernünftigere, das in der Richtung des absolut Vernünf- tigen Liegende nach Möglichkeit auch zum positiven Gesetz zu erheben. Also, wie die sittliche Vernunft im Einzelnen lebendig ist als immer wachendes praktisches Selbstbe- wusstsein und zwar kritisches Selbstbewusstsein, als sittliches "Gewissen", so hat die Vernunft im sozialen Leben den gleichen Sinn der selbstprüfenden, ja auf sittliche Ge- staltung eines sozialen Selbst bewusst gerichteten Kritik. Man will, auf dem Standpunkt der Vernunft, gemeinschaftlich,
*) Stammler, S. 107.
in derjenigen letzten, freilich erst recht bloss formalen Ein- heit, in die alles Wollen und dadurch auch die ganze zu regelnde Materie der menschlichen Triebe in strenger Gesetz- lichkeit sich fügen soll. Die reine Form der Gesetzlichkeit also, als ausschliessender, in letzter Instanz maassgeblicher Be- stimmungsgrund, ist es, die das Gebot der praktischen Ver- nunft von der blossen empirischen Regel einzelnen beschränkten Wollens unterscheidet. Ihr Gesetz gilt unterschiedslos für soziale wie individuale Willensregelung. Denn es erstreckt sich, seinem Begriff zufolge, auf das menschliche Leben in seiner Totalität, also muss es auch das Gemeinschaftsleben nach seinem ganzen Umfang umspannen. Zwar das sittliche Wollen selbst bleibt immer individual, weil autonom; es ruht in seiner verpflichtenden Kraft nicht, wie die äussere, hetero- nome Regel des Rechts, auf gegenseitiger Bindung, auf der Bedingung eines entsprechenden Verhaltens des Andern*); aber es erstreckt sich darum nicht minder, seinem Inhalt nach, auf das soziale Leben und stellt auch seine letztbeherrschende Gesetzgebung dar.
Nun geht das Vernunftgesetz aber, seinem Inhalt nach, ganz über Erfahrung hinaus; inwiefern vermag es gleichwohl sich in gegebener Gemeinschaft thatsächlich Ausdruck zu ver- schaffen? Nur insofern im Leben der Gemeinschaft und infolge der Gemeinschaft sich eine Tendenz bildet und mit steigender Bewusstheit des sozialen Lebens steigert, das soziale Leben bewusst in der Richtung jener formalen Einheit zu gestalten; das Vernünftigere, das in der Richtung des absolut Vernünf- tigen Liegende nach Möglichkeit auch zum positiven Gesetz zu erheben. Also, wie die sittliche Vernunft im Einzelnen lebendig ist als immer wachendes praktisches Selbstbe- wusstsein und zwar kritisches Selbstbewusstsein, als sittliches „Gewissen“, so hat die Vernunft im sozialen Leben den gleichen Sinn der selbstprüfenden, ja auf sittliche Ge- staltung eines sozialen Selbst bewusst gerichteten Kritik. Man will, auf dem Standpunkt der Vernunft, gemeinschaftlich,
*) Stammler, S. 107.
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in derjenigen letzten, freilich erst recht bloss formalen Ein-
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regelnde Materie der menschlichen Triebe in strenger Gesetz-
lichkeit sich fügen soll. Die reine Form der Gesetzlichkeit
also, als ausschliessender, in letzter Instanz maassgeblicher Be-
stimmungsgrund, ist es, die das Gebot der praktischen Ver-
nunft von der blossen empirischen Regel einzelnen beschränkten
Wollens unterscheidet. Ihr Gesetz gilt unterschiedslos für
soziale wie individuale Willensregelung. Denn es erstreckt
sich, seinem Begriff zufolge, auf das menschliche Leben in
seiner Totalität, also muss es auch das Gemeinschaftsleben
nach seinem ganzen Umfang umspannen. Zwar das sittliche
Wollen selbst bleibt immer individual, weil autonom; es ruht
in seiner verpflichtenden Kraft nicht, wie die äussere, hetero-
nome Regel des Rechts, auf gegenseitiger Bindung, auf der
Bedingung eines entsprechenden Verhaltens des Andern *); aber
es erstreckt sich darum nicht minder, seinem Inhalt nach,
auf das soziale Leben und stellt auch seine letztbeherrschende
Gesetzgebung dar.
Nun geht das Vernunftgesetz aber, seinem Inhalt nach,
ganz über Erfahrung hinaus; inwiefern vermag es gleichwohl
sich in gegebener Gemeinschaft thatsächlich Ausdruck zu ver-
schaffen? Nur insofern im Leben der Gemeinschaft und infolge
der Gemeinschaft sich eine Tendenz bildet und mit steigender
Bewusstheit des sozialen Lebens steigert, das soziale Leben
bewusst in der Richtung jener formalen Einheit zu gestalten;
das Vernünftigere, das in der Richtung des absolut Vernünf-
tigen Liegende nach Möglichkeit auch zum positiven Gesetz
zu erheben. Also, wie die sittliche Vernunft im Einzelnen
lebendig ist als immer wachendes praktisches Selbstbe-
wusstsein und zwar kritisches Selbstbewusstsein, als
sittliches „Gewissen“, so hat die Vernunft im sozialen Leben
den gleichen Sinn der selbstprüfenden, ja auf sittliche Ge-
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Man will, auf dem Standpunkt der Vernunft, gemeinschaftlich,
*) Stammler, S. 107.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/160>, abgerufen am 28.11.2024.
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