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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Wachstum des pflanzlichen und tierischen Organismus, auch das
geistige Wachstum des Menschen im frühesten Alter am mächtig-
sten und gestaltreichsten und die schaffende Kraft am grössten ist.
Das Kind und zwar sozusagen jedes Kind vollbringt in den
ersten Lebensjahren oft unter den schwierigsten Bedingungen
geistige Leistungen, denen sich nichts von dem, was der durch-
schnittlich Begabte später zustande bringt, auch nur entfernt
vergleichen lässt. Das Erste ist der Aufbau dieser ganzen
Welt unsrer Wahrnehmungen, die dem Erwachsenen bei jedem
Augenaufschlag fertig dasteht wie vom Himmel gefallen, die
aber das Kind förmlich aus dem Nichts erst schaffen muss.
Denn am Anfangspunkte seiner Entwicklung vermag es that-
sächlich nicht auch nur einen Punkt zu fixieren, eine Linie
zu verfolgen, geschweige dass diese unbegreifliche Fülle von
Gestaltungen, die wir einfach als gegeben hinnehmen, für es
schon da wäre. Eine weitere wundervolle Schöpfung ist die
der Sprache; eine zweite Welt gleichsam, welche jene erste
abbildet, nämlich sie in dem eigenen Material des Sprachlauts
gleichsam kopiert. Auch hier geht das Kind vom völligen
Nichts aus. Es muss nicht bloss die Lautkomplexe selbst
erst auffassen und selber bilden lernen, was zur Bildung der
Wahrnehmungen einerseits, der willkürlichen Bewegungen
andrerseits gehört und einen bedeutenden Teil der Willens-
bildung schon einschliesst; sondern das Grösste ist erst das
Verständnis dessen, was das Wort sagen will. Da ist oft die
gemeinte Sache für das Kind noch gar nicht da, sondern es
hat die Vorstellung selbst erst zu fassen, indem es das Wort
verstehen lernt. Aber selbst dass überhaupt das Wort etwas
sagen, d. h. zu verstehen geben will, muss das Kind erst er-
raten. Versucht man einmal sich psychologisch klar zu machen,
was das alles voraussetzt, so muss man erkennen, dass es,
alles in allem, eine ganz erstaunliche Leistung ist, gar nicht
vergleichbar etwa mit unserm Erlernen einer fremden Sprache,
geschähe es auch ohne Hülfe eines Buches oder Lehrers, allein
durch den Umgang mit solchen, die sie sprechen. Aehnlich ist
es aber mit allem geistigen Erwerb des Kindes bewandt. Es
erringt ja in derselben Zeit noch so grosse Dinge wie den be-

Wachstum des pflanzlichen und tierischen Organismus, auch das
geistige Wachstum des Menschen im frühesten Alter am mächtig-
sten und gestaltreichsten und die schaffende Kraft am grössten ist.
Das Kind und zwar sozusagen jedes Kind vollbringt in den
ersten Lebensjahren oft unter den schwierigsten Bedingungen
geistige Leistungen, denen sich nichts von dem, was der durch-
schnittlich Begabte später zustande bringt, auch nur entfernt
vergleichen lässt. Das Erste ist der Aufbau dieser ganzen
Welt unsrer Wahrnehmungen, die dem Erwachsenen bei jedem
Augenaufschlag fertig dasteht wie vom Himmel gefallen, die
aber das Kind förmlich aus dem Nichts erst schaffen muss.
Denn am Anfangspunkte seiner Entwicklung vermag es that-
sächlich nicht auch nur einen Punkt zu fixieren, eine Linie
zu verfolgen, geschweige dass diese unbegreifliche Fülle von
Gestaltungen, die wir einfach als gegeben hinnehmen, für es
schon da wäre. Eine weitere wundervolle Schöpfung ist die
der Sprache; eine zweite Welt gleichsam, welche jene erste
abbildet, nämlich sie in dem eigenen Material des Sprachlauts
gleichsam kopiert. Auch hier geht das Kind vom völligen
Nichts aus. Es muss nicht bloss die Lautkomplexe selbst
erst auffassen und selber bilden lernen, was zur Bildung der
Wahrnehmungen einerseits, der willkürlichen Bewegungen
andrerseits gehört und einen bedeutenden Teil der Willens-
bildung schon einschliesst; sondern das Grösste ist erst das
Verständnis dessen, was das Wort sagen will. Da ist oft die
gemeinte Sache für das Kind noch gar nicht da, sondern es
hat die Vorstellung selbst erst zu fassen, indem es das Wort
verstehen lernt. Aber selbst dass überhaupt das Wort etwas
sagen, d. h. zu verstehen geben will, muss das Kind erst er-
raten. Versucht man einmal sich psychologisch klar zu machen,
was das alles voraussetzt, so muss man erkennen, dass es,
alles in allem, eine ganz erstaunliche Leistung ist, gar nicht
vergleichbar etwa mit unserm Erlernen einer fremden Sprache,
geschähe es auch ohne Hülfe eines Buches oder Lehrers, allein
durch den Umgang mit solchen, die sie sprechen. Aehnlich ist
es aber mit allem geistigen Erwerb des Kindes bewandt. Es
erringt ja in derselben Zeit noch so grosse Dinge wie den be-

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[200/0216] Wachstum des pflanzlichen und tierischen Organismus, auch das geistige Wachstum des Menschen im frühesten Alter am mächtig- sten und gestaltreichsten und die schaffende Kraft am grössten ist. Das Kind und zwar sozusagen jedes Kind vollbringt in den ersten Lebensjahren oft unter den schwierigsten Bedingungen geistige Leistungen, denen sich nichts von dem, was der durch- schnittlich Begabte später zustande bringt, auch nur entfernt vergleichen lässt. Das Erste ist der Aufbau dieser ganzen Welt unsrer Wahrnehmungen, die dem Erwachsenen bei jedem Augenaufschlag fertig dasteht wie vom Himmel gefallen, die aber das Kind förmlich aus dem Nichts erst schaffen muss. Denn am Anfangspunkte seiner Entwicklung vermag es that- sächlich nicht auch nur einen Punkt zu fixieren, eine Linie zu verfolgen, geschweige dass diese unbegreifliche Fülle von Gestaltungen, die wir einfach als gegeben hinnehmen, für es schon da wäre. Eine weitere wundervolle Schöpfung ist die der Sprache; eine zweite Welt gleichsam, welche jene erste abbildet, nämlich sie in dem eigenen Material des Sprachlauts gleichsam kopiert. Auch hier geht das Kind vom völligen Nichts aus. Es muss nicht bloss die Lautkomplexe selbst erst auffassen und selber bilden lernen, was zur Bildung der Wahrnehmungen einerseits, der willkürlichen Bewegungen andrerseits gehört und einen bedeutenden Teil der Willens- bildung schon einschliesst; sondern das Grösste ist erst das Verständnis dessen, was das Wort sagen will. Da ist oft die gemeinte Sache für das Kind noch gar nicht da, sondern es hat die Vorstellung selbst erst zu fassen, indem es das Wort verstehen lernt. Aber selbst dass überhaupt das Wort etwas sagen, d. h. zu verstehen geben will, muss das Kind erst er- raten. Versucht man einmal sich psychologisch klar zu machen, was das alles voraussetzt, so muss man erkennen, dass es, alles in allem, eine ganz erstaunliche Leistung ist, gar nicht vergleichbar etwa mit unserm Erlernen einer fremden Sprache, geschähe es auch ohne Hülfe eines Buches oder Lehrers, allein durch den Umgang mit solchen, die sie sprechen. Aehnlich ist es aber mit allem geistigen Erwerb des Kindes bewandt. Es erringt ja in derselben Zeit noch so grosse Dinge wie den be-

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/216>, abgerufen am 24.11.2024.