Begriffe, deren Behandlung man in einer irgend vollständigen Theorie der Willensbildung jedenfalls erwartet, da sie in der bisherigen Pädagogik des Willens eine fast unbestrittene Führerrolle gespielt haben: der Begriffe von Befehl und Gehorsam, geübter und empfundener Autorität, als Helfern der Willenserziehung, und ihren Helfershelfern Lob und Tadel, Lohn und Strafe. Oft genug hat man darin fast das Ganze der Willensbildung in formaler Hinsicht gesehen. Die Geschicklichkeit zu befehlen und Gehorsam zu finden, Autorität zu gewinnen und zu behaupten, Lob und Lohn, Rüge und Strafe wirksam auszuteilen, gilt als die eigentliche Haupttugend des Erziehers, und ein gefügiges Verhalten des Zög- lings dagegen als seine Haupttugend, als sicherstes Kennzeichen des Wohlerzogenen. Und doch ist offenbar, dass das Leben des Erzogenen im Gehorchen, im blossen Wollen dessen, was ein Andrer vorgewollt hat, nicht aufgehen kann, sondern vor allem die Fähigkeit erfordert, selbst zu wollen und recht zu wollen, ohne dass einer es vorgemacht hat. Vielleicht erklärt sich diese übertriebene Schätzung der Autorität aus der schon bemerkten Eigenheit der zweiten, für die Thätigkeit des Er- ziehers, besonders in der Schule, wichtigsten Erziehungsstufe: dass, nachdem das eigene Wollen einmal erwacht ist, zunächst naturgemäss der Trieb vorwaltet, sich vom Willen des Andern, zumeist von dem so anspruchsvollen Willen des bestellten Erziehers loszumachen, während doch dem eignen Wollen noch die Kraft fehlt, auf sichere Leitung verzichten zu können. Da sieht denn der Erzieher leicht nur das Eine: dass er die Zügel der Regierung fest in den Händen halten muss, und er- kennt darin seine nächste, wenn nicht seine einzige Aufgabe, was die Leitung des Willens betrifft.
Seine Aufgabe ist es ohne Zweifel. Der Wille des Zög- lings muss geleitet werden, so lange er nicht sich selber leiten kann. Es muss der Begriff einer Verpflichtung gewonnen werden, der man unterliegt auch ohne eignes Wollen und Verstehen. Aeussere Regelung ist unerlässlich notwendig in jedem menschlichen Zusammenwirken; und es ist notwendig sich in den Zwang äusserer Ordnungen frühzeitig zu gewöhnen.
Begriffe, deren Behandlung man in einer irgend vollständigen Theorie der Willensbildung jedenfalls erwartet, da sie in der bisherigen Pädagogik des Willens eine fast unbestrittene Führerrolle gespielt haben: der Begriffe von Befehl und Gehorsam, geübter und empfundener Autorität, als Helfern der Willenserziehung, und ihren Helfershelfern Lob und Tadel, Lohn und Strafe. Oft genug hat man darin fast das Ganze der Willensbildung in formaler Hinsicht gesehen. Die Geschicklichkeit zu befehlen und Gehorsam zu finden, Autorität zu gewinnen und zu behaupten, Lob und Lohn, Rüge und Strafe wirksam auszuteilen, gilt als die eigentliche Haupttugend des Erziehers, und ein gefügiges Verhalten des Zög- lings dagegen als seine Haupttugend, als sicherstes Kennzeichen des Wohlerzogenen. Und doch ist offenbar, dass das Leben des Erzogenen im Gehorchen, im blossen Wollen dessen, was ein Andrer vorgewollt hat, nicht aufgehen kann, sondern vor allem die Fähigkeit erfordert, selbst zu wollen und recht zu wollen, ohne dass einer es vorgemacht hat. Vielleicht erklärt sich diese übertriebene Schätzung der Autorität aus der schon bemerkten Eigenheit der zweiten, für die Thätigkeit des Er- ziehers, besonders in der Schule, wichtigsten Erziehungsstufe: dass, nachdem das eigene Wollen einmal erwacht ist, zunächst naturgemäss der Trieb vorwaltet, sich vom Willen des Andern, zumeist von dem so anspruchsvollen Willen des bestellten Erziehers loszumachen, während doch dem eignen Wollen noch die Kraft fehlt, auf sichere Leitung verzichten zu können. Da sieht denn der Erzieher leicht nur das Eine: dass er die Zügel der Regierung fest in den Händen halten muss, und er- kennt darin seine nächste, wenn nicht seine einzige Aufgabe, was die Leitung des Willens betrifft.
Seine Aufgabe ist es ohne Zweifel. Der Wille des Zög- lings muss geleitet werden, so lange er nicht sich selber leiten kann. Es muss der Begriff einer Verpflichtung gewonnen werden, der man unterliegt auch ohne eignes Wollen und Verstehen. Aeussere Regelung ist unerlässlich notwendig in jedem menschlichen Zusammenwirken; und es ist notwendig sich in den Zwang äusserer Ordnungen frühzeitig zu gewöhnen.
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Begriffe, deren Behandlung man in einer irgend vollständigen
Theorie der Willensbildung jedenfalls erwartet, da sie in der
bisherigen Pädagogik des Willens eine fast unbestrittene
Führerrolle gespielt haben: der Begriffe von Befehl und
Gehorsam, geübter und empfundener Autorität, als Helfern
der Willenserziehung, und ihren Helfershelfern Lob und
Tadel, Lohn und Strafe. Oft genug hat man darin fast
das Ganze der Willensbildung in formaler Hinsicht gesehen.
Die Geschicklichkeit zu befehlen und Gehorsam zu finden,
Autorität zu gewinnen und zu behaupten, Lob und Lohn,
Rüge und Strafe wirksam auszuteilen, gilt als die eigentliche
Haupttugend des Erziehers, und ein gefügiges Verhalten des Zög-
lings dagegen als seine Haupttugend, als sicherstes Kennzeichen
des Wohlerzogenen. Und doch ist offenbar, dass das Leben
des Erzogenen im Gehorchen, im blossen Wollen dessen, was
ein Andrer vorgewollt hat, nicht aufgehen kann, sondern vor
allem die Fähigkeit erfordert, selbst zu wollen und recht zu
wollen, ohne dass einer es vorgemacht hat. Vielleicht erklärt
sich diese übertriebene Schätzung der Autorität aus der schon
bemerkten Eigenheit der zweiten, für die Thätigkeit des Er-
ziehers, besonders in der Schule, wichtigsten Erziehungsstufe:
dass, nachdem das eigene Wollen einmal erwacht ist, zunächst
naturgemäss der Trieb vorwaltet, sich vom Willen des Andern,
zumeist von dem so anspruchsvollen Willen des bestellten
Erziehers loszumachen, während doch dem eignen Wollen noch
die Kraft fehlt, auf sichere Leitung verzichten zu können.
Da sieht denn der Erzieher leicht nur das Eine: dass er die
Zügel der Regierung fest in den Händen halten muss, und er-
kennt darin seine nächste, wenn nicht seine einzige Aufgabe,
was die Leitung des Willens betrifft.
Seine Aufgabe ist es ohne Zweifel. Der Wille des Zög-
lings muss geleitet werden, so lange er nicht sich selber leiten
kann. Es muss der Begriff einer Verpflichtung gewonnen
werden, der man unterliegt auch ohne eignes Wollen und
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in jedem menschlichen Zusammenwirken; und es ist notwendig
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/246>, abgerufen am 16.02.2025.
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