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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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einem Wort in mangelnder Selbstzucht. Auch die sinnlose
Geheimniskrämerei, welche die einfachen Thatsachen des Ge-
schlechtslebens gleichsam aus der Welt lügt, die unzeitige
Trennung und dann wieder die verkehrte Art der Zusammen-
bringung der Geschlechter, trägt wohl einen Teil der Schuld.
Aber auch das könnte geändert sein und die Hauptquelle des
Uebels bliebe dennoch unverstopft. Denn schliesslich hängt
doch alles an der rechten Grundlage in der Gesinnung; sonst
schützt der Gesunde seine Gesundheit vor, der Kranke seine
Krankheit, der Unwissende seine Unwissenheit und der Wissende
seine Wissenschaft, der Freie die zu grosse Freiheit und der
klösterlich Abgesperrte die Einsamkeit, während sie alle gleicher-
maassen von ihrer unbeherrschten Leidenschaft sich blenden
und entnerven lassen. Wer in einem harmonischen Familien-
leben, besonders unter im Alter nicht zu fernstehenden Ge-
schwistern des andern Geschlechts oder in einfachem, natur-
wüchsigem Freundschaftsverkehr mit ihm aufgewachsen und
sonst leidlich normal gebildet und erzogen ist, wird nicht
leicht dem an sich einfachen und verständlichen Sinn der
Keuschheitsgesetze sich widersetzen oder sich von Gegen-
kräften gegen den Ansturm eines an sich ja nur normalen
Begehrens verlassen finden. Am besten aber hilft ihm jede
hinlänglich kräftige Fort- und Nachwirkung derselben erziehen-
den Kräfte, die seine Kindheit behüteten, um ihn auch im
gefährlichen Alter gegen die Versuchung fest, ja unverwundbar
zu machen; zumal wenn zugleich durch eine ausreichende
ästhetische Erziehung dafür gesorgt ist, ihm die gemeine Form,
in der das Laster sich anbietet, von Anfang an so zuwider
zu machen, wie sie es dem etwas feinfühligeren Menschen
überhaupt nur sein kann. Eine recht wertvolle Hülfe sehe
auch ich in einem für beide Geschlechter gemeinsamen Schul-
unterricht, worüber ein Erfahrener in der "Ethischen Kultur"
(1897, N. 12 und 13) ansprechenden Bericht giebt. Ein natür-
licherer Verkehr auch jenseits der Schule würde daraus von
selbst folgen, wie er jetzt wenigstens in Bewegungsspielen
und sonstigem Sport sich langsam anzubahnen scheint. Ich
kann auch das Widerstreben gegen die Zulassung weiblicher

einem Wort in mangelnder Selbstzucht. Auch die sinnlose
Geheimniskrämerei, welche die einfachen Thatsachen des Ge-
schlechtslebens gleichsam aus der Welt lügt, die unzeitige
Trennung und dann wieder die verkehrte Art der Zusammen-
bringung der Geschlechter, trägt wohl einen Teil der Schuld.
Aber auch das könnte geändert sein und die Hauptquelle des
Uebels bliebe dennoch unverstopft. Denn schliesslich hängt
doch alles an der rechten Grundlage in der Gesinnung; sonst
schützt der Gesunde seine Gesundheit vor, der Kranke seine
Krankheit, der Unwissende seine Unwissenheit und der Wissende
seine Wissenschaft, der Freie die zu grosse Freiheit und der
klösterlich Abgesperrte die Einsamkeit, während sie alle gleicher-
maassen von ihrer unbeherrschten Leidenschaft sich blenden
und entnerven lassen. Wer in einem harmonischen Familien-
leben, besonders unter im Alter nicht zu fernstehenden Ge-
schwistern des andern Geschlechts oder in einfachem, natur-
wüchsigem Freundschaftsverkehr mit ihm aufgewachsen und
sonst leidlich normal gebildet und erzogen ist, wird nicht
leicht dem an sich einfachen und verständlichen Sinn der
Keuschheitsgesetze sich widersetzen oder sich von Gegen-
kräften gegen den Ansturm eines an sich ja nur normalen
Begehrens verlassen finden. Am besten aber hilft ihm jede
hinlänglich kräftige Fort- und Nachwirkung derselben erziehen-
den Kräfte, die seine Kindheit behüteten, um ihn auch im
gefährlichen Alter gegen die Versuchung fest, ja unverwundbar
zu machen; zumal wenn zugleich durch eine ausreichende
ästhetische Erziehung dafür gesorgt ist, ihm die gemeine Form,
in der das Laster sich anbietet, von Anfang an so zuwider
zu machen, wie sie es dem etwas feinfühligeren Menschen
überhaupt nur sein kann. Eine recht wertvolle Hülfe sehe
auch ich in einem für beide Geschlechter gemeinsamen Schul-
unterricht, worüber ein Erfahrener in der „Ethischen Kultur“
(1897, N. 12 und 13) ansprechenden Bericht giebt. Ein natür-
licherer Verkehr auch jenseits der Schule würde daraus von
selbst folgen, wie er jetzt wenigstens in Bewegungsspielen
und sonstigem Sport sich langsam anzubahnen scheint. Ich
kann auch das Widerstreben gegen die Zulassung weiblicher

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[253/0269] einem Wort in mangelnder Selbstzucht. Auch die sinnlose Geheimniskrämerei, welche die einfachen Thatsachen des Ge- schlechtslebens gleichsam aus der Welt lügt, die unzeitige Trennung und dann wieder die verkehrte Art der Zusammen- bringung der Geschlechter, trägt wohl einen Teil der Schuld. Aber auch das könnte geändert sein und die Hauptquelle des Uebels bliebe dennoch unverstopft. Denn schliesslich hängt doch alles an der rechten Grundlage in der Gesinnung; sonst schützt der Gesunde seine Gesundheit vor, der Kranke seine Krankheit, der Unwissende seine Unwissenheit und der Wissende seine Wissenschaft, der Freie die zu grosse Freiheit und der klösterlich Abgesperrte die Einsamkeit, während sie alle gleicher- maassen von ihrer unbeherrschten Leidenschaft sich blenden und entnerven lassen. Wer in einem harmonischen Familien- leben, besonders unter im Alter nicht zu fernstehenden Ge- schwistern des andern Geschlechts oder in einfachem, natur- wüchsigem Freundschaftsverkehr mit ihm aufgewachsen und sonst leidlich normal gebildet und erzogen ist, wird nicht leicht dem an sich einfachen und verständlichen Sinn der Keuschheitsgesetze sich widersetzen oder sich von Gegen- kräften gegen den Ansturm eines an sich ja nur normalen Begehrens verlassen finden. Am besten aber hilft ihm jede hinlänglich kräftige Fort- und Nachwirkung derselben erziehen- den Kräfte, die seine Kindheit behüteten, um ihn auch im gefährlichen Alter gegen die Versuchung fest, ja unverwundbar zu machen; zumal wenn zugleich durch eine ausreichende ästhetische Erziehung dafür gesorgt ist, ihm die gemeine Form, in der das Laster sich anbietet, von Anfang an so zuwider zu machen, wie sie es dem etwas feinfühligeren Menschen überhaupt nur sein kann. Eine recht wertvolle Hülfe sehe auch ich in einem für beide Geschlechter gemeinsamen Schul- unterricht, worüber ein Erfahrener in der „Ethischen Kultur“ (1897, N. 12 und 13) ansprechenden Bericht giebt. Ein natür- licherer Verkehr auch jenseits der Schule würde daraus von selbst folgen, wie er jetzt wenigstens in Bewegungsspielen und sonstigem Sport sich langsam anzubahnen scheint. Ich kann auch das Widerstreben gegen die Zulassung weiblicher

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/269>, abgerufen am 21.11.2024.