der Aufgabe der Bildung ist es, worin der entscheidende Schritt zum "Leben" sich vollzieht. Kein endliches Ziel mehr will dem wie zur Selbstverewigung drängenden Streben genügen. Nicht bloss umfassendere Einheiten werden gesucht, sondern die letzte Einheit der Einheiten; nicht bloss höhere Zwecke aufgestellt, sondern nach dem Zweck aller Zwecke gefragt. "So ist denn alles nichts, wenn das Eine fehlt, das dem Menschen alles Andre wert ist": so ist die Grundstimmung dieses Alters der Sehnsucht. Das Wort, aus Goethes pädagogischem Roman, hat zunächst die Liebessehnsucht im Sinn; aber der Philosoph wird sich dabei der Liebeslehre der Diotima in Platos Gast- mahl erinnern, diesem philosophischen Hymnus auf die Jugend. Da ist der Zusammenhang des unbegrenzten, aufs "hohe Meer" gelangenden Bildungsdranges in Wissenschaft, in sittlichen Be- ziehungen und in Kunstgestaltung mit dem erwachenden Liebes- verlangen in einer Klarheit und Tiefe enthüllt, an die auch Goethe kaum heranreicht. Sich selber, den Menschen in sich zu bilden, sein eigenes tiefstes Leben anzuknüpfen an die Kette des grossen, ewigen Lebens der Menschheit, von ihr es zu empfangen und in sie weiterzugeben, das ist der unerschöpf- liche Sinn des ganzen, unverstümmelten Jugenddranges. Das so erwachte Selbstbewusstsein sucht und erzwingt dann frei- lich auch die Objektivierung im andern Selbst; die Ahnung des Unendlichen in der eigenen Seele will sich reinigen und sichern in dem Glauben an das Unendliche in der Seele des Andern, darum einzig und grenzenlos Geliebten. Allein, ebenso wie man am Ich nicht haften will -- das wäre viel zu eng und eingeschlossen -- so ist auch das einzelne Du nur begrenzender Ausdruck eines Dranges, der an sich keine Grenze anerkennt. Aufs Persönliche zwar ist er ganz gerichtet, aber nicht auf die einzelne Person, weder die eigene noch die fremde, sondern auf "die Menschheit sowohl in der eigenen Person als in der Person eines jeden Andern". Und so findet das "Eine, das dem Menschen alles Andre wert ist", seinen reineren Aus- druck als Sache, als Idee, als "das" Wahre, Gute, Schöne, das in der letzten Idee, in der Idee der Idee Eins ist.
Also scheinen wir weit entfernt von einer neuen, beson-
der Aufgabe der Bildung ist es, worin der entscheidende Schritt zum „Leben“ sich vollzieht. Kein endliches Ziel mehr will dem wie zur Selbstverewigung drängenden Streben genügen. Nicht bloss umfassendere Einheiten werden gesucht, sondern die letzte Einheit der Einheiten; nicht bloss höhere Zwecke aufgestellt, sondern nach dem Zweck aller Zwecke gefragt. „So ist denn alles nichts, wenn das Eine fehlt, das dem Menschen alles Andre wert ist“: so ist die Grundstimmung dieses Alters der Sehnsucht. Das Wort, aus Goethes pädagogischem Roman, hat zunächst die Liebessehnsucht im Sinn; aber der Philosoph wird sich dabei der Liebeslehre der Diotima in Platos Gast- mahl erinnern, diesem philosophischen Hymnus auf die Jugend. Da ist der Zusammenhang des unbegrenzten, aufs „hohe Meer“ gelangenden Bildungsdranges in Wissenschaft, in sittlichen Be- ziehungen und in Kunstgestaltung mit dem erwachenden Liebes- verlangen in einer Klarheit und Tiefe enthüllt, an die auch Goethe kaum heranreicht. Sich selber, den Menschen in sich zu bilden, sein eigenes tiefstes Leben anzuknüpfen an die Kette des grossen, ewigen Lebens der Menschheit, von ihr es zu empfangen und in sie weiterzugeben, das ist der unerschöpf- liche Sinn des ganzen, unverstümmelten Jugenddranges. Das so erwachte Selbstbewusstsein sucht und erzwingt dann frei- lich auch die Objektivierung im andern Selbst; die Ahnung des Unendlichen in der eigenen Seele will sich reinigen und sichern in dem Glauben an das Unendliche in der Seele des Andern, darum einzig und grenzenlos Geliebten. Allein, ebenso wie man am Ich nicht haften will — das wäre viel zu eng und eingeschlossen — so ist auch das einzelne Du nur begrenzender Ausdruck eines Dranges, der an sich keine Grenze anerkennt. Aufs Persönliche zwar ist er ganz gerichtet, aber nicht auf die einzelne Person, weder die eigene noch die fremde, sondern auf „die Menschheit sowohl in der eigenen Person als in der Person eines jeden Andern“. Und so findet das „Eine, das dem Menschen alles Andre wert ist“, seinen reineren Aus- druck als Sache, als Idee, als „das“ Wahre, Gute, Schöne, das in der letzten Idee, in der Idee der Idee Eins ist.
Also scheinen wir weit entfernt von einer neuen, beson-
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Nicht bloss umfassendere Einheiten werden gesucht, sondern
die letzte Einheit der Einheiten; nicht bloss höhere Zwecke
aufgestellt, sondern nach dem Zweck aller Zwecke gefragt.
„So ist denn alles nichts, wenn das Eine fehlt, das dem Menschen
alles Andre wert ist“: so ist die Grundstimmung dieses Alters
der Sehnsucht. Das Wort, aus Goethes pädagogischem Roman,
hat zunächst die Liebessehnsucht im Sinn; aber der Philosoph
wird sich dabei der Liebeslehre der Diotima in Platos Gast-
mahl erinnern, diesem philosophischen Hymnus auf die Jugend.
Da ist der Zusammenhang des unbegrenzten, aufs „hohe Meer“
gelangenden Bildungsdranges in Wissenschaft, in sittlichen Be-
ziehungen und in Kunstgestaltung mit dem erwachenden Liebes-
verlangen in einer Klarheit und Tiefe enthüllt, an die auch
Goethe kaum heranreicht. Sich selber, den Menschen in
sich zu bilden, sein eigenes tiefstes Leben anzuknüpfen an die
Kette des grossen, ewigen Lebens der Menschheit, von ihr es
zu empfangen und in sie weiterzugeben, das ist der unerschöpf-
liche Sinn des ganzen, unverstümmelten Jugenddranges. Das
so erwachte Selbstbewusstsein sucht und erzwingt dann frei-
lich auch die Objektivierung im andern Selbst; die Ahnung
des Unendlichen in der eigenen Seele will sich reinigen und
sichern in dem Glauben an das Unendliche in der Seele des
Andern, darum einzig und grenzenlos Geliebten. Allein,
ebenso wie man am Ich nicht haften will — das wäre viel
zu eng und eingeschlossen — so ist auch das einzelne Du nur
begrenzender Ausdruck eines Dranges, der an sich keine Grenze
anerkennt. Aufs Persönliche zwar ist er ganz gerichtet, aber
nicht auf die einzelne Person, weder die eigene noch die fremde,
sondern auf „die Menschheit sowohl in der eigenen Person
als in der Person eines jeden Andern“. Und so findet das „Eine,
das dem Menschen alles Andre wert ist“, seinen reineren Aus-
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das in der letzten Idee, in der Idee der Idee Eins ist.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/276>, abgerufen am 21.11.2024.
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