Analyse würde aber gar nicht möglich sein oder zu irgend einem reinen Ergebnis führen können, wenn nicht die konstruk- tive, synthetische Arbeit, durch die jene komplexen Gebilde erst entstanden, voraus vollbracht, und in und mit dieser das Verständnis in der Richtung (z. B.) der geometrischen Form überhaupt schon vorgebildet wäre. Man würde ohne das über- haupt nicht angeben können, was eigentlich aus den komplexen Bildungen herauszuarbeiten, aus welchen und welcherlei Ele- menten vielmehr sie zu rekonstruieren seien. Und doch ist dies möglich: ein Kind setzt seine Bauklötze zusammen, so wie es geometrisch und mechanisch richtig ist. Und es hat von dieser Richtigkeit auch eine Art Wissen; es weiss bestimmt voraus, und zwar nicht durchaus nur in Fällen, wo es des früheren, zufälligen Gelingens etwa sich erinnert, sondern auf Grund seines bis dahin erworbenen allgemeinen Ver- ständnisses seiner Klötze, was es mit diesen und diesen Klötzen wird leisten können und was nicht. Dies Wissen kann unter günstigen Umständen schon früh in verhältnis- mässig grosser Feinheit ausgearbeitet sein; jedenfalls lange bevor das Kind fertige Begriffe und nicht bloss dunkle Ahnungen von Zahlen, Grössen und gar mechanischen Beziehungen hat. Man sagt dann, es hat diese Kenntnis aus der "Erfahrung". Aber man mache sich doch auf dem Wege der Sinnesphysio- logie klar, wie solche Erfahrung zustande kommen konnte. Sie kam zustande durch ein sehr komplexes, in den entschei- denden Schritten aber synthetisches und keineswegs ana- lytisches Verfahren, im Prinzip nicht verschieden von dem, welches in voller Helle des Bewusstseins bald der Rechen- und Geometrie-Schüler, und auf wiederum höherer Stufe der experimentierende Physiker vollbringen wird. Gleiches gilt von der primitiven Sprachbildung. Könnte man etwa noch glauben, wirklich eine Erklärung damit zu geben, dass das Kind die arithmetischen, geometrischen, mechanischen Verhält- nisse sehe, taste etc., und dadurch lerne, so möchte ich gern, dass mir jemand klar machte, aus welchen und welcherlei rezep- tiven Wahrnehmungen es die oft feinen und verwickelten be- grifflichen Bezüge, die in den Formelementen der Sprache
Analyse würde aber gar nicht möglich sein oder zu irgend einem reinen Ergebnis führen können, wenn nicht die konstruk- tive, synthetische Arbeit, durch die jene komplexen Gebilde erst entstanden, voraus vollbracht, und in und mit dieser das Verständnis in der Richtung (z. B.) der geometrischen Form überhaupt schon vorgebildet wäre. Man würde ohne das über- haupt nicht angeben können, was eigentlich aus den komplexen Bildungen herauszuarbeiten, aus welchen und welcherlei Ele- menten vielmehr sie zu rekonstruieren seien. Und doch ist dies möglich: ein Kind setzt seine Bauklötze zusammen, so wie es geometrisch und mechanisch richtig ist. Und es hat von dieser Richtigkeit auch eine Art Wissen; es weiss bestimmt voraus, und zwar nicht durchaus nur in Fällen, wo es des früheren, zufälligen Gelingens etwa sich erinnert, sondern auf Grund seines bis dahin erworbenen allgemeinen Ver- ständnisses seiner Klötze, was es mit diesen und diesen Klötzen wird leisten können und was nicht. Dies Wissen kann unter günstigen Umständen schon früh in verhältnis- mässig grosser Feinheit ausgearbeitet sein; jedenfalls lange bevor das Kind fertige Begriffe und nicht bloss dunkle Ahnungen von Zahlen, Grössen und gar mechanischen Beziehungen hat. Man sagt dann, es hat diese Kenntnis aus der „Erfahrung“. Aber man mache sich doch auf dem Wege der Sinnesphysio- logie klar, wie solche Erfahrung zustande kommen konnte. Sie kam zustande durch ein sehr komplexes, in den entschei- denden Schritten aber synthetisches und keineswegs ana- lytisches Verfahren, im Prinzip nicht verschieden von dem, welches in voller Helle des Bewusstseins bald der Rechen- und Geometrie-Schüler, und auf wiederum höherer Stufe der experimentierende Physiker vollbringen wird. Gleiches gilt von der primitiven Sprachbildung. Könnte man etwa noch glauben, wirklich eine Erklärung damit zu geben, dass das Kind die arithmetischen, geometrischen, mechanischen Verhält- nisse sehe, taste etc., und dadurch lerne, so möchte ich gern, dass mir jemand klar machte, aus welchen und welcherlei rezep- tiven Wahrnehmungen es die oft feinen und verwickelten be- grifflichen Bezüge, die in den Formelementen der Sprache
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Analyse würde aber gar nicht möglich sein oder zu irgend
einem reinen Ergebnis führen können, wenn nicht die konstruk-
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erst entstanden, voraus vollbracht, und in und mit dieser das
Verständnis in der Richtung (z. B.) der geometrischen Form
überhaupt schon vorgebildet wäre. Man würde ohne das über-
haupt nicht angeben können, was eigentlich aus den komplexen
Bildungen herauszuarbeiten, aus welchen und welcherlei Ele-
menten vielmehr sie zu rekonstruieren seien. Und doch ist
dies möglich: ein Kind setzt seine Bauklötze zusammen, so
wie es geometrisch und mechanisch richtig ist.
Und es hat von dieser Richtigkeit auch eine Art Wissen; es weiss
bestimmt voraus, und zwar nicht durchaus nur in Fällen, wo
es des früheren, zufälligen Gelingens etwa sich erinnert, sondern
auf Grund seines bis dahin erworbenen allgemeinen Ver-
ständnisses seiner Klötze, was es mit diesen und diesen
Klötzen wird leisten können und was nicht. Dies Wissen
kann unter günstigen Umständen schon früh in verhältnis-
mässig grosser Feinheit ausgearbeitet sein; jedenfalls lange
bevor das Kind fertige Begriffe und nicht bloss dunkle Ahnungen
von Zahlen, Grössen und gar mechanischen Beziehungen hat.
Man sagt dann, es hat diese Kenntnis aus der „Erfahrung“.
Aber man mache sich doch auf dem Wege der Sinnesphysio-
logie klar, wie solche Erfahrung zustande kommen konnte.
Sie kam zustande durch ein sehr komplexes, in den entschei-
denden Schritten aber synthetisches und keineswegs ana-
lytisches Verfahren, im Prinzip nicht verschieden von dem,
welches in voller Helle des Bewusstseins bald der Rechen-
und Geometrie-Schüler, und auf wiederum höherer Stufe der
experimentierende Physiker vollbringen wird. Gleiches gilt
von der primitiven Sprachbildung. Könnte man etwa noch
glauben, wirklich eine Erklärung damit zu geben, dass das
Kind die arithmetischen, geometrischen, mechanischen Verhält-
nisse sehe, taste etc., und dadurch lerne, so möchte ich gern,
dass mir jemand klar machte, aus welchen und welcherlei rezep-
tiven Wahrnehmungen es die oft feinen und verwickelten be-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/295>, abgerufen am 21.11.2024.
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