bedeutete. Man kann jedoch, wie das Beispiel Dörpfelds lehrt, die sittliche Bedeutung der Religion ganz anerkennen, ja über- schätzen, und es doch unrichtig und nicht ungefährlich finden, die Begründung des Sittlichen ihr ganz allein anzuvertrauen; als sollte, wem die Religion, und zwar die bestimmte von der Schule gerade gebotene, nicht oder nicht mehr überzeugend ist, damit nun auch ausserhalb der Gebote der Sittlichkeit ge- stellt sein. Nun liesse sich wohl noch daran denken, dass ein andrer, nämlich der muttersprachliche Unterricht die freie, von Religion unabhängige sittliche Reflexion ganz auf sich nehmen solle; besonders um nicht die jetzt schon bedenkliche Vielspältigkeit des Unterrichts durch Hinzufügung noch eines weiteren Fachs zu vermehren. So etwa waren, auf dem Stand- punkt ihrer Zeit, die "Denkübungen" v. Rochow's gemeint. Auch ist ja kein Zweifel, dass die sittliche Reflexion durch Lesestück und Aufsatz ihren bescheidenen aber gesicherten Platz im Muttersprachunterricht schon gegenwärtig hat. Das Bestreben könnte verlockend scheinen, das, was somit stück- weise schon heute geschieht, nur etwas gründlicher und plan- mässiger zu leisten. Allein eben dies planmässige Vorgehen wäre mit den sonstigen Zwecken des Sprachunterrichts schwer zu vereinigen; es drängt im Gegenteil auf Abzweigung deut- lich hin, möchte diese auch einstweilen nur so geschehen, dass in besonderen, nicht zu zahlreichen, dem Muttersprachunter- richt angeschlossenen Stunden, so etwa wie in der Gymnasial- prima als Teil der "Philosophischen Propädeutik", die einfachen Grundzüge der Sittenlehre vorgeführt würden; worauf dann in Aufsatzthemen und bei der Lektüre je nach gegebenem Anlass Bezug genommen werden könnte, ohne dass dem eigenen Zwecke des Sprachunterrichts dadurch Abbruch geschähe. Damit wäre aber die Forderung eines eigenen ethischen Unterrichts im Grunde anerkannt und es bliebe nur mehr eine technische Frage, wie dieser im besonderen einzurichten und mit andern Fächern in das richtige Verhältnis zu setzen sei. Innerlich schwierig ist einzig und allein das Verhältnis zum Religions- unterricht. Sollen beide neben einander hergehen, so fragt sich, ob in enger Verbindung mit einander oder gerade mit
bedeutete. Man kann jedoch, wie das Beispiel Dörpfelds lehrt, die sittliche Bedeutung der Religion ganz anerkennen, ja über- schätzen, und es doch unrichtig und nicht ungefährlich finden, die Begründung des Sittlichen ihr ganz allein anzuvertrauen; als sollte, wem die Religion, und zwar die bestimmte von der Schule gerade gebotene, nicht oder nicht mehr überzeugend ist, damit nun auch ausserhalb der Gebote der Sittlichkeit ge- stellt sein. Nun liesse sich wohl noch daran denken, dass ein andrer, nämlich der muttersprachliche Unterricht die freie, von Religion unabhängige sittliche Reflexion ganz auf sich nehmen solle; besonders um nicht die jetzt schon bedenkliche Vielspältigkeit des Unterrichts durch Hinzufügung noch eines weiteren Fachs zu vermehren. So etwa waren, auf dem Stand- punkt ihrer Zeit, die „Denkübungen“ v. Rochow’s gemeint. Auch ist ja kein Zweifel, dass die sittliche Reflexion durch Lesestück und Aufsatz ihren bescheidenen aber gesicherten Platz im Muttersprachunterricht schon gegenwärtig hat. Das Bestreben könnte verlockend scheinen, das, was somit stück- weise schon heute geschieht, nur etwas gründlicher und plan- mässiger zu leisten. Allein eben dies planmässige Vorgehen wäre mit den sonstigen Zwecken des Sprachunterrichts schwer zu vereinigen; es drängt im Gegenteil auf Abzweigung deut- lich hin, möchte diese auch einstweilen nur so geschehen, dass in besonderen, nicht zu zahlreichen, dem Muttersprachunter- richt angeschlossenen Stunden, so etwa wie in der Gymnasial- prima als Teil der „Philosophischen Propädeutik“, die einfachen Grundzüge der Sittenlehre vorgeführt würden; worauf dann in Aufsatzthemen und bei der Lektüre je nach gegebenem Anlass Bezug genommen werden könnte, ohne dass dem eigenen Zwecke des Sprachunterrichts dadurch Abbruch geschähe. Damit wäre aber die Forderung eines eigenen ethischen Unterrichts im Grunde anerkannt und es bliebe nur mehr eine technische Frage, wie dieser im besonderen einzurichten und mit andern Fächern in das richtige Verhältnis zu setzen sei. Innerlich schwierig ist einzig und allein das Verhältnis zum Religions- unterricht. Sollen beide neben einander hergehen, so fragt sich, ob in enger Verbindung mit einander oder gerade mit
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bedeutete. Man kann jedoch, wie das Beispiel Dörpfelds lehrt,
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schätzen, und es doch unrichtig und nicht ungefährlich finden,
die Begründung des Sittlichen ihr ganz allein anzuvertrauen;
als sollte, wem die Religion, und zwar die bestimmte von der
Schule gerade gebotene, nicht oder nicht mehr überzeugend
ist, damit nun auch ausserhalb der Gebote der Sittlichkeit ge-
stellt sein. Nun liesse sich wohl noch daran denken, dass ein
andrer, nämlich der muttersprachliche Unterricht die freie,
von Religion unabhängige sittliche Reflexion ganz auf sich
nehmen solle; besonders um nicht die jetzt schon bedenkliche
Vielspältigkeit des Unterrichts durch Hinzufügung noch eines
weiteren Fachs zu vermehren. So etwa waren, auf dem Stand-
punkt ihrer Zeit, die „Denkübungen“ v. Rochow’s gemeint.
Auch ist ja kein Zweifel, dass die sittliche Reflexion durch
Lesestück und Aufsatz ihren bescheidenen aber gesicherten
Platz im Muttersprachunterricht schon gegenwärtig hat. Das
Bestreben könnte verlockend scheinen, das, was somit stück-
weise schon heute geschieht, nur etwas gründlicher und plan-
mässiger zu leisten. Allein eben dies planmässige Vorgehen
wäre mit den sonstigen Zwecken des Sprachunterrichts schwer
zu vereinigen; es drängt im Gegenteil auf Abzweigung deut-
lich hin, möchte diese auch einstweilen nur so geschehen, dass
in besonderen, nicht zu zahlreichen, dem Muttersprachunter-
richt angeschlossenen Stunden, so etwa wie in der Gymnasial-
prima als Teil der „Philosophischen Propädeutik“, die einfachen
Grundzüge der Sittenlehre vorgeführt würden; worauf dann in
Aufsatzthemen und bei der Lektüre je nach gegebenem Anlass
Bezug genommen werden könnte, ohne dass dem eigenen Zwecke
des Sprachunterrichts dadurch Abbruch geschähe. Damit wäre
aber die Forderung eines eigenen ethischen Unterrichts im
Grunde anerkannt und es bliebe nur mehr eine technische
Frage, wie dieser im besonderen einzurichten und mit andern
Fächern in das richtige Verhältnis zu setzen sei. Innerlich
schwierig ist einzig und allein das Verhältnis zum Religions-
unterricht. Sollen beide neben einander hergehen, so fragt
sich, ob in enger Verbindung mit einander oder gerade mit
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/325>, abgerufen am 27.11.2024.
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